Beuys 100
Herausgegeben von Volker Schäfer
In der Reihe die Region trifft sich – die Region erinnert sich der Kasseler Sparkasse
152 Seiten, vierfarbig, Fadenheftung
mit zahlr. Fotografien und Abbildungen
Mit Beiträgen von Eugen Blume, Paul Coffey, Hans Eichel, Heiner Georgsdorf, Martin Groh, Harald Kimpel, Daniel Opper, Petra Richter, Sabine Schormann, Dirk Schwarze, Johannes Stüttgen, Rhea Thönges-Stringaris und Andres Veiel.
Verlag: euregioverlag
1. Auflage
Seitenzahl: 152
Preis: 20,00 €
ISBN 9783933617842
Zurück
Schäfer, Volker
Beuys 100
Preis: 20.00 €
(Preis inkl. Mehrwertsteuer zzgl. Versandkosten)
In den Warenkorb
(Preis inkl. Mehrwertsteuer zzgl. Versandkosten)
Fenster schließen
Kein Künstler ist in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts so einflussreich gewesen, kein Teilnehmer hat die documenta in Kassel geprägt wie er.
Der vorliegende Sammelband befasst sich mit Beuys anlässlich seines 100. Geburtstags 2021. Die Beiträge nehmen auf vielfältige Weise Einblick in sein Leben und Werkschaffen: Als erstes natürlich die „7000 Eichen“, die jeweils mit Basaltstelen versehen im Kasseler Stadtgebiet gepflanzt wurden. „Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung“:
Beuys pflanzte trotz eines Proteststurms den ersten Baum am 16. März 1982. Beiträge von Martin Groh, Hans Eichel, Harald Kimpel und Johannes Stüttgen beleuchten das Projekt in allen seinen Facetten. Darüber hinaus wird auch die aktuelle Aktion einer „Sozialen Plastik“ in Chicago vorgestellt, die in Verneigung vor Joseph Beuys dabei ist, dort 7000 Bäume zu pflanzen.
Weitere Themen des Buches sind: Zeit mit Beuys / Zeit nach Beuys. Ein Gespräch von Rhea Thönges mit Andres Veiel, Zeit für Beuys – ein Blick aus dem Fridericianum: Sabine Schormann im Interview mit Volker Schäfer, Joseph Beuys in Süditalien von Petra Richter, Die Herausforderung unserer Generation: Joseph Beuys aus der Sicht von Daniel Opper, Wo ist Joseph Beuys? Eine Verschwörungstheorie von Eugen Blume, Ich und Beuys: Erinnerungen von Heiner Georgsdorf, Kräfte des Lebens: Zum Tod von Joseph Beuys und weitere Texte über Beuys von Dirk Schwarze..
Vorwort Sparkasse
Einleitung
Volker Schäfer
Josef Beuys
Biografie Joseph Beuys
Veit Loers und Pia Witzmann
Zeit mit Beuys / Zeit nach Beuys
Ein Gespräch zwischen Rhea Thönges und Andres Veiel
Zeit für Beuys – ein Blick aus dem Fridericianum
Sabine Schormann im Interview mit Volker Schäfer
Wo ist Joseph Beuys? Eine Verschwörungstheorie
Eugen Blume
Marginale Erinnerungen an Josef Beuys
Heiner Georgsdorf
Die Herausforderung unserer Generation
Daniel Opper
7000 Eichen
Die „Aktion 7000 Eichen“ von Joseph Beuys als Beitrag zur documenta 7, 1982
Martin Groh
Zur Frage der Kunst am Beispiel „7000 Eichen“ von Joseph Beuys
oder: Was unterscheidet Bäumepflanzen vom Bäumepflanzen als Kunstwerk?
Johannes Stüttgen
STATT – Die wachsende Provokation. 7.000 Eichen und 7.000 Steine im Kontext
Harald Kimpel
Ein gigantisches Kunstprojekt zur documenta 7:
„7000 Eichen – Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung“ – so einfach war das nicht
Hans Eichel
Josef Beuys international
Joseph Beuys in Süditalien – Eine Nachricht aus Caltabellotta
Petra Richter
Die Eichen von North Lawndale
Eine Pflanzaktion in Chicago
Paul Coffey
Blick zurück
Aus Kunst wird Leben Beuys zum 65.
Dirk Schwarze
Kräfte des Lebens Zum Tod von Joseph Beuys
Dirk Schwarze
„Das ist nur ein Beginn“ Rückblick auf das Leben von Beuys
Dirk Schwarze
Autorinnen und Autoren
Bildnachweis
Die Pflanzung von 7000 Eichen ist ein erster Schritt, die gegenwärtige Notlage der (Um)welt anzugehen. Denn die Kunst ist die einzige Form, in der Umweltprobleme gelöst werden können. …
Ich denke, dass das Pflanzen dieser Eichen ja nicht nur eine Tat in der Biosphären-Notwendigkeit ist, also in diesem nur rein materiell-ökologischen Zusammenhang, sondern daß hier ein sehr viel umfassenderer Ökologie herauskommen soll – und das soll es ja mehr und mehr im Laufe der Jahre, denn wir wollen die Pflanzaktion ja nie mehr beenden. …
Also ist „7000 Eichen“ eine Plastik, die sich auf das Leben der Menschen bezieht, auf ihre alltägliche Arbeit. Das ist mein Kunstbegriff, den ich den erweiterten Kunstbegriff oder die soziale Skulptur nenne.
Joseph Beuys 1982
Prolog
Die Pflanzaktion nie mehr zu beenden – eine Perspektive, die für viele Menschen bereits eine ungeheure Herausforderung darstellt – erscheint für Joseph Beuys geradezu auch als Chiffre sein gesamten künstlerischen Arbeitens: Für ihn gab es so etwas wie ein Ende nicht. Jedem Gedanken, jedem Tun konnte er noch eine weitere Idee, einen weiteren Sinn hinzufügen, einen neuen Kosmos aufblättern, der vermochte, das eigene Denken in Bewegung zu setzen. Er faszinierte Studierende in Düsseldorf, Kassel und den USA, füllte Säle bei seinen Vorträgen, galt als einer der weltweit wichtigsten Künstler zum Ende des 20. Jahrhunderts und inspirierte Menschen in vielen Bereichen, sich mit seiner Ideenwelt auseinanderzusetzen – und selbst für diejenigen, die ihm nicht auf allen gedanklichen Wegen folgen mochten, geriet die Auseinandersetzung mit seinen Ideen zum Gewinn von mehr Klarheit.
„Kunst-Who’s Who?“
Selbst in der oft unübersichtlichen Künstler-Szene fand Beuys Unterstützer, als er für die Realisierung seiner Herkules-Aufgabe, in Kassel „7000 Eichen“ zu implantieren, finanzielle Unterstützung benötigte. Die Idee seines „Privatsekretärs“ Heiner Bastian, Beuys‘ Künstlerkollegen insbesondere der documenta 7 um Unterstützung für die „7000 Eichen“ zu bitten, stieß bei 34 von ihnen auf spontane Zustimmung. Beuys handschriftliche Aufzeichnung der Namen der Künstler, die seine „7000 Eichen“ zum eigenen Anliegen gemacht haben, liest sich wie ein „Kunst-Who’s Who?“ seiner Zeit. Um nur einige zu nennen: Basquiat, Chia, Clemente, Cragg, Cucchi, Dahn, Deutsch, Dokoupil. Haring, Immendorff, Kapoor, Knoebel, Kounellis, Long, Merz, Oehlen, Paladino, Rauschenberg, Salome, Schnabel, Tannert, Twombly, Warhol und noch weiter – sie gehören zur Crème der ewigen documenta-Geschichte, und ihre Spende eines Kunstwerks für die Finanzierung der „7000 Eichen“ bildete eine grandiose Grundlage.
Auch nach Beuys‘ Tod ein weitreichendes Hoffnungszeichen für die Entwicklungsmöglichkeiten der Menschen zu entdecken, ermöglicht uns eine von Rhea Thönges-Stringaris initiierte Installation am Giebel des Ottoneums: Hier ertönt ein Hoffnungssignal, für welch weitreichende Entwicklungsperspektiven Beuys die Menschen für fähig hielt.
Weit über sein jahrzehntelanges Engagement in Kassel dehnt Beuys seinen Horizont aus: In weiten Teilen Deutschlands, in Italien, im von ihm mystisch erforschten Keltenreich Schottland, Irland, England, in den lange verschmähten USA – Beuys kommunizierte polyglott. Und immer wieder fand er zahlreiche aufmerksame Zuhörer*innen – die Fotos von Beuys inmitten großer Gruppen der ihm Lauschenden oder Diskutierenden sind nicht mehr zu zählen.
Für die nordhessische Region ist es ein gern wahrgenommenes Zeichen, dass Beuys‘ Vergnügen an Grenzüberschreitungen nicht nur mental, weltweit und kunstkategorial stattfand, sondern auch im Nahfeld – so ließ er fast 60 Bäume der „7000 Eichen“ auch in mehreren Umlandgemeinden jenseits der Gemarkungsgrenze der Stadt Kassel anpflanzen.
Die Pflanzungen interessierten Beuys nicht nur vom Ergebnis her – bei vielen Aktionen legte er tatkräftig Hand an. Wir wissen nicht, ob er Bert Brechts „Fragen eines lesenden Arbeiters kannte („Cäsar eroberte Gallien. - Er allein? Hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich?“) – und natürlich war er nicht immer dabei, aber er hatte ein Gespür dafür, wann es notwendig war – am Start, an besonderen Pflanzorten (Pferdemarkt, Schulen), bei besonderen erreichten Etappen (2.000, Halbzeit, 4.500) des erreichten Fortschritts.
Jenseits einer in Kassel durchaus hörbaren Skepsis zu den „7000 Eichen“ – schließlich hatte Beuys die Insignien seiner Aktion in Gestalt von 7.000 mächtigen Basaltbrocken in ihr städtisches „Wohnzimmer“, den Friedrichsplatz, kippen lassen – fand Beuys in Kassel aber eine geradezu begeisterte Szene von Aktivist*innen. Natürlich in der intellektuellen Szene im Umfeld der Free International University (FIU) und darüber hinaus in den Gefilden der Kunstinteressierten, aber ganz praktisch war die Expertise aus dem Umfeld des Hochschulbereichs Architektur, Stadt- und Landschaftsplanung von unschätzbarer Bedeutung. . Karl Heinz Hülbusch war eine wichtige Triebfeder, und Norbert Scholz, Andreas Schmidt-Maas, Sigi Sander, der kongeniale Helmut Plate und viele andere gehören noch heute zu den aufmerksamen Begleitern „ihrer“ Bäume.
Das zunächst nicht nur einfache Verhältnis der „7000 Eichen“-Pflanzteams zu städtischen Gremien hat sich geändert. Nachdem zunächst bei der Suche nach geeigneten Pflanzorten für die „7000 Eichen“ vor allem im Bereich des Tiefbauamtes von deutlich weniger als 100 die Rede war, hat sich der Leiter des Gartenamtes, Hans-Jürgen Taurit, schon früh geoutet mit dem Statement, man habe von der Philosophie Joseph Beuys‘ viel übernommen. Und selbst die an Pflanzungen mitarbeitenden Freigänger der Justizvollzugsanstalt waren begeistert, dass sie als Anerkennung ihrer Arbeit fünf „Beuys-Bäume“ im Innenhof erhielten – auf Verlangen des Justizministeriums in hinreichendem Abstand von den Gefängnismauern.
Aufruf zur Alternative
Außerhalb dieser Mauern hatte Joseph Beuys großes Interesse, sich auch in politische Kontexte einzumischen. Beim Wahlkampf für die GRÜNE Petra Kelly, im Kampf für Abrüstung und Frieden im Schatten der Neutronenbombe, bei der Veränderung der Lebensverhältnisse in der DDR durch seinen Kontakt zu Rudolf Bahro und auch in der Bundesrepublik durch gemeinsam Auftritte mit Rudi Dutschke, Heinrich Böll, Klaus Staeck und anderen.
Die Friedens- und Ökologiefrage hat Beuys auch nach seinem vergeblichen Versuch, bei den Grünen ein Mandat zu erhalten, weiter forciert, die Demokratiefrage durch seine Forderung nach „Mehr Demokratie durch Volksabstimmung“ immer wieder als eine noch nicht gelöste angesehen. Dabei griff er auch immer wieder auf Ansätze seines „Aufruf zur Alternative“ vom 23.12.1978 zurück, in dem er bereits eine Zukunft einer sozialen Zukunft, verstärkte Anstrengungen zur weltweiten Abrüstung, aktive Maßnahmen gegen das gestörte Verhältnis zur Natur, ein verträgliches (Welt-)Wirtschaften und fundamentale Schritte gegen die wachsende Bewusstseins- und Sinnkrise einforderte. All diese Aktivitäten verdeutlichen, wie ernst und wie weitgehend Beuys seine These „Jeder Mensch ist ein Künstler“ als Gestalter seiner Welt verstanden hat.
Mit seiner fürsorglichen Weitsicht, das Leben der Bäume in den Blick zu nehmen und in den Bäumen das Abbild eines Friedens mit unseren Seelen zu finden, hat Beuys lange vor dem Absterben hektargroßer Waldflächen angemahnt, die Welt nicht nur aus einem partiellen – ökonomischen, profitorientierten, ausbeuterischen und insgesamt vermeintlich eigennützigen – Blick zu sehen. Spätestens wenn die massigen Eisflächen Grönlands verschwunden, unsere Wälder gerodet, Lebensmittel aus noch ferneren Regionen importiert, Lebensbedingungen von Menschen anderer Regionen zerstört und die internationalen Konflikte kaum mehr zu steuern sind, werden wir merken, dass das Wohlergehen unserer Bäume ein sehr nahe liegender, guter Sensor sein könnte, wie wir unser Leben sinnvoller gestalten können.
Beuys 100
Für die Beteiligung an diesem Band zu Joseph Beuys 100. Geburtstag konnten wir sehr kompetente Autorinnen und Autoren gewinnen. Sie kennen sich alle in der Gedankenwelt von Beuys hervorragend aus, finden aber ganz unterschiedliche Zugänge. Man wird also kein Studium der Kunstgeschichte benötigen, um über Joseph Beuys noch etwas bisher Unbekanntes zu erfahren.
„Zeit mit Beuys / Zeit nach Beuys“
Rhea Thönges-Stringaris, langjährige Wegbegleiterin von Beuys und Gründerin der Kasseler Free International University (FIU) und Andres Veiel, vielfältig gefeierter Regisseur des Films BEUYS, den die SÜDWESTPRESSE mit den Worten belobigt: „Man erkennt: So einer wie Joseph Beuys fehlt“ – diese beiden nähern sich unter der Überschrift „Zeit mit Beuys / Zeit nach Beuys“ auf einespannende Weise in einem sich narrativ entwickelnden Gespräch den vielen Facetten des Schaffens von Beuys an: Den ökologischen und künstlerischen Aktionen, der Weiterentwicklung unserer Demokratie, den wahren Wirtschaftswerten und der tieferen Bedeutung von Kreativität und Kapital. Natürlich werden auch seine vielen markanten Beteiligungen an der documenta – nicht zuletzt die „7000 Eichen“ gewürdigt und vertiefend analysiert. Dabei bewegen sie sich ganz auf dem Gedanken von Beuys „Die Ursache liegt in der Zukunft.“
Zeit für Beuys – ein Blick aus dem Fridericianum
Als Generaldirektorin der documenta gGmbH lenkt Sabine Schormann den Blick auf fundamentale Positionierungen von Beuys, der mit seinen Ansätzen über die „Soziale Plastik“, „Jeder Mensch ein Künstler“ und dem „Gesamtkunstwerk zukünftiger Gesellschaftsordnung“ Signale setzt, wie philosophisches Gedankengut ganz praktisch in die Tat umsetzbar sei und damit als einer der wichtigsten gesellschaftskritischen Künstler des 20. Jahrhunderts gelte. Seine sozialen, gesellschaftlichen, politischen, ökonomischen und ökologischen Fragestellungen erführen heute eine wachsende Aktualität. Sie schlägt einen Bogen zur Kuratorengruppe ruangrupa der documenta 15, die sie in der Überzeugung, dass Menschen mithilfe ihrer Kreativität im Zusammenwirken die Welt verändern können, in gedanklicher Nähe zu Beuys sieht. Kollektives, dialogisches Handeln, Partizipation, Solidarität, Empathie und Großzügigkeit entdeckt sie als gemeinsame Verbindungslinien zu Beuys.
Wo ist Joseph Beuys? Eine Verschwörungstheorie
Der frühere Direktor des „Hamburger Bahnhofs“ in Berlin, Eugen Blume, nähert sich Beuys auf eine faszinierende biografische Weise. Als jungem Bürger der DDR galt ihm der wie ein staatenloser Rebell daherkommende Beuys als unterstützende Instanz auf der Suche nach Wahrheit. Aber selbst die einzige Möglichkeit, ihn einmal persönlich zu treffen, scheiterte bereits im Ansatz: Allein bei der Vorstellung, er könne Beuys‘ Ausstellung „Multiplizierte Kunst“ (1981) in der Ständigen Vertretung der BRD im quasi exterritorialen Ostberlin besuchen, drohte sein Vorgesetzter mit fristloser Kündigung.
So lebte Beuys für ihn in politischer Nähe der für ihn erfahrbaren linken Opposition – in einer Zeit, in der die Reformierbarkeit der DDR noch denkbar war. Eugen Blume beschreibt seine Rezeption der ersten Besuche von Beuys-Ausstellungen um die Zeit der Grenzöffnung und analysiert die Impulse, die Beuys von dem Anthroposophen Rudolf Steiner aufgegriffen hatte.
Ich und Beuys
Heiner Georgsdorf überrascht uns mit seinen „Marginalen Erinnerungen“ an Beuys. Episoden persönlicher Begegnungen, sein Einblick in Dokumente aus Archiven und seiner eigenen Zeit als Professor an der Kasseler Kunsthochschule, Auseinandersetzungen mit den Sujets diverser Ausstellungen – nicht zuletzt auch als Mitarbeiter bei der documenta und als Vorsitzender des Kunstvereins – bieten einen umfangreichen Fundus für den Schatz seiner Annäherungen. Dabei kommen auch intime Betrachtungen mit eigenen Kunstvorlieben, Rettungstaten für den Verbleib des wunderbaren „Rudels“ in Kassel, seine Auseinandersetzung mit journalistischen Anstachelungen des „Volkszorns“, bisweilen anregende Besuche und Sammlungen und Schilderungen, wie er selbst einmal aneckte, nicht zu kurz.
Beuys aus der Sicht der nächsten Generation
Daniel Opper bewegt sich biografisch parallel zur Planung und Pflanzung der „7000 Eichen“. Als Zweijähriger hat er Beuys‘ aufgeschichtete Basaltstelen als Klettergarten erobert. Aus dieser haptischen Erfahrung ist mittlerweile eine schon frühe, vertiefte Auseinandersetzung mit den Anregungen durch Beuys geworden. Er hat als einer der Initiatoren bereits während seiner Schulzeit in Kassel eine Jugendzukunftskonferenz mitorganisiert, in der Fragen, Analysen und Anforderungen an die Mitgestaltung zukünftiger Welten diskutiert wurden. Schon in dieser Phase wurden Fragen zu Verantwortung, Ökologie, Gerechtigkeit und Partizipation aufgeworfen. Heute als Leiter des „Bucerius Lab“ der ZEIT-Stiftung agiert er in großer Nähe zur Gedankenwelt von Beuys in der Sphäre von ökonomischen, ökologischen, gesellschaftlichen und kommunitären Aktionsformen, die zur Sicherung und Weiterentwicklung unserer Zukunft beitragen können. Damit nimmt er die Herausforderungen für seine Generation an.
Die „Aktion 7000 Eichen“
Martin Groh ist der Chronist für viele Planungsabläufe, Konzeptionen, Realisierungen und Auseinandersetzungen zur „Aktion 7000 Eichen“. Als Wissenschaftler im documenta Archiv sitzt er unmittelbar an der Quelle vieler Dokumente und Bildzeugnisse. Dadurch sind ihm Vorstellungen von Beuys, die handelnden Personen mit ihrer Kooperationsbereitschaft und ihren Widerständen, das jeweilige Selbstverständnis beteiligter Institutionen und der gesellschaftliche Diskurs vertraut. Seine umfassende Schilderung der laufenden Ereignisse stellt ein profundes Nachschlagwerk zur erstmaligen Information oder auch zum Schließen aufgetauchter Gedächtnislücken dar. Durch seinen detaillierten Blick über gut fünf Jahre lässt er den künstlerischen Ansatz von Beuys, die herkulische Leistung vieler Beteiligter und die Bedeutung des Kunstwerkes für Kassel noch einmal aufleuchten.
Was unterscheidet Bäumepflanzen vom Bäumepflanzen als Kunstwerk?
Johannes Stüttgen nimmt uns mit auf einen Gedankengang, der den Unterschied zwischen dem Pflanzen von Bäumen und dem Bäumepflanzen als Idee eines Kunstwerks herauskristallisiert. Er verdeutlicht, dass bereits in dem Moment, in dem wir nicht nur den botanischen Vorgang sehen, sondern den umfassenderen Begriff der Natur einbeziehen, einen breiten Teppich von Bezügen ausrollen, die unmittelbar in diesem Vorgang angesprochen werden: Ökonomie, Produktion, Konsum, Geldordnung, Nutzungsformen des öffentlichen Raumes, Wissenschaften, Politik, Zeit, usw. Wie sich eine Idee materialisiert, wer einbezogen und wer ausgeschlossen wird, wie aus der gepflanzten Materie wieder weitere Ideen entwickelt werden – auf diese Zusammenhänge macht Johannes Stüttgen mit dem Bäumepflanzen als Kunstwerk aufmerksam.
STATT – Die wachsende Provokation
Auch Harald Kimpel begibt sich auf eine Reise durch einige KunstWelten, um auf einen Unterschied hinzuweisen: Den Unterschied zwischen den „7000 Eichen“ und einigen weiteren Kunstwerken, die sich auch mit ökologischen Aspekten beschäftigen.
Eine Reihe anderer berühmter Kunstwerke unterscheidet er von den „7000 Eichen“, weil diese eben nicht als Skulptur oder Denk-Mal aufgestellt wurden, sondern mit der Auswahl ihrer Pflanzorte, mit ihrer massiven Präsenz eine eigene ästhetische Debatte über ihren Sinn und Zweck provozieren. Die Kasseler*innen, die den Aufruhr über das fünfjährige Basaltstelenlager auf dem Friedrichsplatz noch im Sinn haben, wissen, wovon er spricht. Die „7000 Eichen“ sind eben nicht nur temporäre Erscheinung. Die 300 Bäume im Fußballstadion in Klagenfurt wurden z. B. nur vorübergehend auf Blechplatten abgestellt, damit der Boden nicht beschädigt wird, um dann nach Ende der Aktion wieder entfernt zu werden. Den „7000 Eichen“ misst Harald Kimpel orts- und zeitübergreifendes Widerstandspotential zu, das dauerhaft etwas Besseres an die Stelle von Bedürftigem setzt.
So einfach war das nicht
Hans Eichel ist für die „7000 Eichen – Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung“ ein wichtiger Akteur gewesen: als Vorsitzender des Aufsichtsrats der documenta und als Oberbürgermeister an der Spitze der kommunalen Verwaltung – mit Wirkung nach innen und nach außen. So war er ein durchaus intimer Kenner der Abläufe. In vielen Gesprächen mit Joseph Beuys selbst, mit Amtsleitungen, Medien und anderen Institutionen hatte er die Doppelfunktion, der documenta Unterstützung und freien Raum zu gewährleisten, zugleich auch den öffentlichen Frieden in der Bürgerschaft zu bewahren. Das war nicht immer leicht. In seinem Beitrag wandelt er den Untertitel von Beuys‘ Aktion um in „Stadtverwaldung mit Hilfe der Stadtverwaltung“. Im dialektischen Prozess der Annäherung spricht er von konstruktiver Zusammenarbeit und hebt das wachsende Bewusstsein der Städter für die natürlichen Grundlagen des Lebens hervor.
Beuys in Italien
Petra Richter nimmt uns mit auf eine anregend-informative Reise nach Süditalien. Sie hat über Beuys nicht nur promoviert, sondern auch viel publiziert. In ihrem Beitrag berichtet sie von Beuys‘ Ausstellung „La rivoluzione siamo Noi“ (Die Revolution sind wir) 1971 in Neapel. Auch in Italien warb er dafür, „sich nicht mit Missständen abzufinden, sondern die Welt als seine veränderbare zu denken.“ Wir erfahren über Beuys‘ Aktivitäten in Italien – insbesondere nach dem gewaltigen Erdbeben in der Nähe Neapels, wo Beuys dann zu Solidaritäts- und Diskussionsveranstaltungen anwesend war und auch materielle Hilfe leistete. Das verheerende Erdbeben in Irpina war der Ausgangspunkt für künstlerische Arbeiten Terremotto / Erdbeben, in denen er Zerbrechlichkeit und gefährdete Balance thematisierte. Hier und später auch auf Sizilien thematisierte er aber nicht nur dieses Naturereignis, sondern warb für Hoffnung und Aktionen, um die sozialen Probleme der Region zu wenden
Beuys in Chicago
Paul Coffey ist Vize-Dekan einer Kunsthochschule im Stadtteil North Lawndale in Chicago, USA. Dieser Stadtteil ist mit vielen sozialen Problemen konfrontiert, so dass die Vermutung reifte, man könne ihnen nur mit der Gestaltung einer „Sozialen Skulptur“ begegnen. Deshalb hat er 2017 mit einer kleinen Delegation Kassel besucht, um die „7000 Eichen“ in Augenschein zu nehmen. Nach Begehungen und intensiven Gesprächen fühlten sie sich so inspiriert, dass sie beschlossen, in Chicago 7.000 Bäume zu pflanzen. Mittlerweile sind davon bereits über 2.000 Bäume mit Unterstützung von Institutionen und Nachbarschaftsgemeinschaften gepflanzt, eine Ausbildungsstätte eingerichtet, Park- und Obstbäume gepflanzt. Der Bericht aus Chicago schildert das durch Beuys animierte Projekt – bis hin zu einer vom mexikanischen Künstler Pedro Reyes inszenierten Aktion, die abgegebene Schusswaffen einschmolz und daraus Pflanz-Schaufeln fertigte.
„Wäre Beuys mir nicht ein Rätsel. Wäre ich nicht hier.“
Dirk Schwarze war für viele Jahre der Chronist vor allem der zeitgenössischen Kunst. Seine Website führt an die 2.000 Artikel auf – allein über Joseph Beuys sind es 75. Zu Beuys‘ Tod schrieb er einen Nachruf „Kräfte des Lebens“, in dem er Stationen seines Lebens und seiner Kunst ansprach. Wenige Tage später verfasste er einen zweiten Nachruf „Das ist nur ein Beginn“ – eine Sequenz aus einem Gespräch zwischen Joseph Beuys und Heiner Bastian, in dem er eine Vision anriss, wie weit sich der Mensch noch weiterentwickeln könnte, weiterentwickeln sollte. Zum 12. Mai 1986, der Tag, an dem Beuys 65 Jahre alt geworden wäre, fügte er eine weitere Erinnerung „Aus Kunst wird Leben“ hinzu, in der er die auf Dauer angelegte Skulptur „7000 Eichen“ ansprach, mit der Beuys mit seiner Kunst der Stadt Kassel wieder Leben eingehaucht hatte. Und er zitierte Wieland Schmied, der seine Faszination für Beuys mit den Worten ausdrückte: „Wäre Beuys mir nicht ein Rätsel. Wäre ich nicht hier.“
Für die anregenden Gedanken der Autorinnen und Autoren, der wunderbaren Kooperation mit Sabine Kemna vom euregioverlag und Bernhard Wollborn vom Atelier Grotesk, dem documenta Archiv für die gute Zusammenarbeit und der Kasseler Sparkasse für den Mut, sich dieses komplexen Themas anzunehmen, bedanke ich mich mit großer Freude.
Volker Schäfer
Marginale Erinnerungen 1
Heiner Georgsdorf
Sie gehört zu meinen schönsten Beuys-Begegnungen, die Begegnung mit Josef Froehlich. Meine Suche nach Beuys-Blättern für eine Aquarell-Ausstellung führte mich Mitte der achtziger Jahre in das Haus des Sammlers in Stuttgart. Ganz unprätentiös, ohne jegliche Attitüde, eher sich zurücknehmend, erzählte mir der Unternehmer, Inhaber einer Maschinenfabrik, wie er Beuys kennen lernte und sich zwischen Joseph und Josef eine freundschaftliche Beziehung entwickelte, die weit über das hinausging, was ihn mit anderen Künstlern, von denen er Werke sammelte, verband. Seine Begegnung mit Beuys – aber sollte man nicht eher sagen: seine Berührung durch Beuys – hatte Folgen. Bis in das alltägliche Umfeld. Alles musste raus, was Josef und Anna Froehlich bisher als Kunst genügte. Es verschwanden all die silbern und golden gerahmten Bruno Brunis und Wunderlichs und ähnliches Dekor des gehobenen Geschmacks, wie mir Froehlich mit selbstironischem Unterton berichtete. Nicht nur die Wände, auch die Räume leerten sich – und blieben leer. Die Wände wurden weiß gestrichen, auf dem Fußboden Holzdielen verlegt. In einem großen, leeren Raum aber – es war das Wohnzimmer – standen Bilder auf dem Boden, an die Wand gelehnt –getreu Picassos Diktum: Der Nagel an der Wand ist der Tod des Bildes! Etwa dreißig Bilder waren das, in zwei, drei Stapeln, alle im gleichen Hochformat von ca. 80x60cm, verglast, der Rahmen aus hellen Holzleisten. Auf weißem Grund war jeweils eine Papierarbeit aufgebracht, mal eine Bleistiftzeichnung, mal ein Aquarell oder eine Tuschezeichnung, immer mit Beuys-Signatur. Erst ein paar Tage zuvor hatte Beuys die neueste Erwerbung vorbeigebracht: ein grauer Pappdeckel mit blauem Klebstreifen am oberen Rand: die Rückseite eines sehr kleinen Notizblocks, bekritzelt mit Zahlen und Schrift. Auch dieses Objet trouvé aus seinem Atelier war mittig aufgebracht und von Beuys signiert worden. Und sollte auch ebenso viel kosten. Der Ehrgeiz des Sammlers hatte sich mit der Zahl hundert eine Ziellinie und ein Limit gesetzt; auf so viele Arbeiten dieser Art sollte sein ganz persönlicher ‚Beuys-Block’ im Laufe der Zeit anwachsen. Das Vorhaben hat mich damals sehr beeindruckt, auch die Gemälde von anderen Künstlern wie Baselitz oder Knoebel, die da im Haus zu sehen waren.
Aber zuvörderst beeindruckt hat mich doch der Sammler selbst, der hier, offensichtlich ohne jegliches Interesse an spekulativer Gewinnmaximierung, sein neues Ambiente, schlicht und reich zugleich ausgestattet, genoss – ein wenig selbst darüber erstaunt, über das Glück, Teil einer Welt zu sein, die seiner Arbeitswelt eigentlich ziemlich wesensfremd sein durfte. Aber Beuys sorgte auch hier für einen Brückenschlag. Da gab es ein schmales, längliches Abstellbrett in der Lackiererei. Im Lauf der Zeit hatte eine dicke Schicht aus Silberbronze das schwache Relief der Gebrauchspuren mit einer gleichmachenden Schicht überzogen. Beuys hat das Brett senkrecht gestellt, prähistorische Mammuts eingeritzt, und unversehens war daraus eine Stele aus einer archaischen Science-Fiction-Epoche entstanden. Oben ließ Beuys sein Taschentuch baumeln, das zuvor beim Transport vor dem aus dem Kofferraum ragenden Brett gewarnt hatte. Ähnlich erging es einem jener mobilen Raumteiler aus opakem Plexiglas, wie man sie in Fabrikräumen zum Schutz von Arbeitsplätzen einsetzt. Die durch jahrelange Nutzung ästhetisch eindrucksvoll verschlissene Oberfläche war an einer Stelle zersplittert. Dieses Loch hat Beuys mit Klebstreifen „versorgt“ und zwei Karbidlampen eingehängt und so das triviale Gestell in eine magische Bildtafel verwandelt.
Heute ist die Sammlung Froehlich öffentlich zugänglich. In einem Ausstellungsgebäude auf dem Gelände der Maschinenfabrik J.W. Froehlich in Leinfelden-Echterdingen. Die beeindruckende Künstlerliste reicht von Artschwager bis Warhol. Jeder Künstler ist in der Regel mit mehreren Arbeiten vertreten. Josef Froehlich war es übrigens, der seinerzeit den goldenen Hasen kaufte und der Staatsgalerie in Stuttgart als Leihgabe überließ. Jener „Friedenshase“, welcher aus dem Gold der Zarenkronenkopie entstand, die Beuys 1982 in einer öffentlichen Aktion auf dem Kasseler Friedrichsplatz zu Beginn der documenta 7 einschmolz. Der Erwerb des Hasen durch Froehlich sicherte die Anlauffinanzierung für das documenta-Projekt „7000 Eichen“. Ein mäzenatischer Kauf also.
Rezensionen
Mehr Infos
Joseph Beuys, am 12. Mai 1921 in Krefeld geboren, aufgewachsen in Kleve, studierte Bildhauerei an der Kunstakademie Düsseldorf, wo er ab 1961 als Professor unterrichtete, ist einer der bedeutendsten documentaKünstler. Das Entsetzen war groß, als Joseph Beuys vor 34 Jahren erst 64jährig an Herzversagen starb.Kein Künstler ist in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts so einflussreich gewesen, kein Teilnehmer hat die documenta in Kassel geprägt wie er.
Der vorliegende Sammelband befasst sich mit Beuys anlässlich seines 100. Geburtstags 2021. Die Beiträge nehmen auf vielfältige Weise Einblick in sein Leben und Werkschaffen: Als erstes natürlich die „7000 Eichen“, die jeweils mit Basaltstelen versehen im Kasseler Stadtgebiet gepflanzt wurden. „Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung“:
Beuys pflanzte trotz eines Proteststurms den ersten Baum am 16. März 1982. Beiträge von Martin Groh, Hans Eichel, Harald Kimpel und Johannes Stüttgen beleuchten das Projekt in allen seinen Facetten. Darüber hinaus wird auch die aktuelle Aktion einer „Sozialen Plastik“ in Chicago vorgestellt, die in Verneigung vor Joseph Beuys dabei ist, dort 7000 Bäume zu pflanzen.
Weitere Themen des Buches sind: Zeit mit Beuys / Zeit nach Beuys. Ein Gespräch von Rhea Thönges mit Andres Veiel, Zeit für Beuys – ein Blick aus dem Fridericianum: Sabine Schormann im Interview mit Volker Schäfer, Joseph Beuys in Süditalien von Petra Richter, Die Herausforderung unserer Generation: Joseph Beuys aus der Sicht von Daniel Opper, Wo ist Joseph Beuys? Eine Verschwörungstheorie von Eugen Blume, Ich und Beuys: Erinnerungen von Heiner Georgsdorf, Kräfte des Lebens: Zum Tod von Joseph Beuys und weitere Texte über Beuys von Dirk Schwarze..
Inhalt
InhaltsverzeichnisVorwort Sparkasse
Einleitung
Volker Schäfer
Josef Beuys
Biografie Joseph Beuys
Veit Loers und Pia Witzmann
Zeit mit Beuys / Zeit nach Beuys
Ein Gespräch zwischen Rhea Thönges und Andres Veiel
Zeit für Beuys – ein Blick aus dem Fridericianum
Sabine Schormann im Interview mit Volker Schäfer
Wo ist Joseph Beuys? Eine Verschwörungstheorie
Eugen Blume
Marginale Erinnerungen an Josef Beuys
Heiner Georgsdorf
Die Herausforderung unserer Generation
Daniel Opper
7000 Eichen
Die „Aktion 7000 Eichen“ von Joseph Beuys als Beitrag zur documenta 7, 1982
Martin Groh
Zur Frage der Kunst am Beispiel „7000 Eichen“ von Joseph Beuys
oder: Was unterscheidet Bäumepflanzen vom Bäumepflanzen als Kunstwerk?
Johannes Stüttgen
STATT – Die wachsende Provokation. 7.000 Eichen und 7.000 Steine im Kontext
Harald Kimpel
Ein gigantisches Kunstprojekt zur documenta 7:
„7000 Eichen – Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung“ – so einfach war das nicht
Hans Eichel
Josef Beuys international
Joseph Beuys in Süditalien – Eine Nachricht aus Caltabellotta
Petra Richter
Die Eichen von North Lawndale
Eine Pflanzaktion in Chicago
Paul Coffey
Blick zurück
Aus Kunst wird Leben Beuys zum 65.
Dirk Schwarze
Kräfte des Lebens Zum Tod von Joseph Beuys
Dirk Schwarze
„Das ist nur ein Beginn“ Rückblick auf das Leben von Beuys
Dirk Schwarze
Autorinnen und Autoren
Bildnachweis
Vorwort
EinleitungDie Pflanzung von 7000 Eichen ist ein erster Schritt, die gegenwärtige Notlage der (Um)welt anzugehen. Denn die Kunst ist die einzige Form, in der Umweltprobleme gelöst werden können. …
Ich denke, dass das Pflanzen dieser Eichen ja nicht nur eine Tat in der Biosphären-Notwendigkeit ist, also in diesem nur rein materiell-ökologischen Zusammenhang, sondern daß hier ein sehr viel umfassenderer Ökologie herauskommen soll – und das soll es ja mehr und mehr im Laufe der Jahre, denn wir wollen die Pflanzaktion ja nie mehr beenden. …
Also ist „7000 Eichen“ eine Plastik, die sich auf das Leben der Menschen bezieht, auf ihre alltägliche Arbeit. Das ist mein Kunstbegriff, den ich den erweiterten Kunstbegriff oder die soziale Skulptur nenne.
Joseph Beuys 1982
Prolog
Die Pflanzaktion nie mehr zu beenden – eine Perspektive, die für viele Menschen bereits eine ungeheure Herausforderung darstellt – erscheint für Joseph Beuys geradezu auch als Chiffre sein gesamten künstlerischen Arbeitens: Für ihn gab es so etwas wie ein Ende nicht. Jedem Gedanken, jedem Tun konnte er noch eine weitere Idee, einen weiteren Sinn hinzufügen, einen neuen Kosmos aufblättern, der vermochte, das eigene Denken in Bewegung zu setzen. Er faszinierte Studierende in Düsseldorf, Kassel und den USA, füllte Säle bei seinen Vorträgen, galt als einer der weltweit wichtigsten Künstler zum Ende des 20. Jahrhunderts und inspirierte Menschen in vielen Bereichen, sich mit seiner Ideenwelt auseinanderzusetzen – und selbst für diejenigen, die ihm nicht auf allen gedanklichen Wegen folgen mochten, geriet die Auseinandersetzung mit seinen Ideen zum Gewinn von mehr Klarheit.
„Kunst-Who’s Who?“
Selbst in der oft unübersichtlichen Künstler-Szene fand Beuys Unterstützer, als er für die Realisierung seiner Herkules-Aufgabe, in Kassel „7000 Eichen“ zu implantieren, finanzielle Unterstützung benötigte. Die Idee seines „Privatsekretärs“ Heiner Bastian, Beuys‘ Künstlerkollegen insbesondere der documenta 7 um Unterstützung für die „7000 Eichen“ zu bitten, stieß bei 34 von ihnen auf spontane Zustimmung. Beuys handschriftliche Aufzeichnung der Namen der Künstler, die seine „7000 Eichen“ zum eigenen Anliegen gemacht haben, liest sich wie ein „Kunst-Who’s Who?“ seiner Zeit. Um nur einige zu nennen: Basquiat, Chia, Clemente, Cragg, Cucchi, Dahn, Deutsch, Dokoupil. Haring, Immendorff, Kapoor, Knoebel, Kounellis, Long, Merz, Oehlen, Paladino, Rauschenberg, Salome, Schnabel, Tannert, Twombly, Warhol und noch weiter – sie gehören zur Crème der ewigen documenta-Geschichte, und ihre Spende eines Kunstwerks für die Finanzierung der „7000 Eichen“ bildete eine grandiose Grundlage.
Auch nach Beuys‘ Tod ein weitreichendes Hoffnungszeichen für die Entwicklungsmöglichkeiten der Menschen zu entdecken, ermöglicht uns eine von Rhea Thönges-Stringaris initiierte Installation am Giebel des Ottoneums: Hier ertönt ein Hoffnungssignal, für welch weitreichende Entwicklungsperspektiven Beuys die Menschen für fähig hielt.
Weit über sein jahrzehntelanges Engagement in Kassel dehnt Beuys seinen Horizont aus: In weiten Teilen Deutschlands, in Italien, im von ihm mystisch erforschten Keltenreich Schottland, Irland, England, in den lange verschmähten USA – Beuys kommunizierte polyglott. Und immer wieder fand er zahlreiche aufmerksame Zuhörer*innen – die Fotos von Beuys inmitten großer Gruppen der ihm Lauschenden oder Diskutierenden sind nicht mehr zu zählen.
Für die nordhessische Region ist es ein gern wahrgenommenes Zeichen, dass Beuys‘ Vergnügen an Grenzüberschreitungen nicht nur mental, weltweit und kunstkategorial stattfand, sondern auch im Nahfeld – so ließ er fast 60 Bäume der „7000 Eichen“ auch in mehreren Umlandgemeinden jenseits der Gemarkungsgrenze der Stadt Kassel anpflanzen.
Die Pflanzungen interessierten Beuys nicht nur vom Ergebnis her – bei vielen Aktionen legte er tatkräftig Hand an. Wir wissen nicht, ob er Bert Brechts „Fragen eines lesenden Arbeiters kannte („Cäsar eroberte Gallien. - Er allein? Hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich?“) – und natürlich war er nicht immer dabei, aber er hatte ein Gespür dafür, wann es notwendig war – am Start, an besonderen Pflanzorten (Pferdemarkt, Schulen), bei besonderen erreichten Etappen (2.000, Halbzeit, 4.500) des erreichten Fortschritts.
Jenseits einer in Kassel durchaus hörbaren Skepsis zu den „7000 Eichen“ – schließlich hatte Beuys die Insignien seiner Aktion in Gestalt von 7.000 mächtigen Basaltbrocken in ihr städtisches „Wohnzimmer“, den Friedrichsplatz, kippen lassen – fand Beuys in Kassel aber eine geradezu begeisterte Szene von Aktivist*innen. Natürlich in der intellektuellen Szene im Umfeld der Free International University (FIU) und darüber hinaus in den Gefilden der Kunstinteressierten, aber ganz praktisch war die Expertise aus dem Umfeld des Hochschulbereichs Architektur, Stadt- und Landschaftsplanung von unschätzbarer Bedeutung. . Karl Heinz Hülbusch war eine wichtige Triebfeder, und Norbert Scholz, Andreas Schmidt-Maas, Sigi Sander, der kongeniale Helmut Plate und viele andere gehören noch heute zu den aufmerksamen Begleitern „ihrer“ Bäume.
Das zunächst nicht nur einfache Verhältnis der „7000 Eichen“-Pflanzteams zu städtischen Gremien hat sich geändert. Nachdem zunächst bei der Suche nach geeigneten Pflanzorten für die „7000 Eichen“ vor allem im Bereich des Tiefbauamtes von deutlich weniger als 100 die Rede war, hat sich der Leiter des Gartenamtes, Hans-Jürgen Taurit, schon früh geoutet mit dem Statement, man habe von der Philosophie Joseph Beuys‘ viel übernommen. Und selbst die an Pflanzungen mitarbeitenden Freigänger der Justizvollzugsanstalt waren begeistert, dass sie als Anerkennung ihrer Arbeit fünf „Beuys-Bäume“ im Innenhof erhielten – auf Verlangen des Justizministeriums in hinreichendem Abstand von den Gefängnismauern.
Aufruf zur Alternative
Außerhalb dieser Mauern hatte Joseph Beuys großes Interesse, sich auch in politische Kontexte einzumischen. Beim Wahlkampf für die GRÜNE Petra Kelly, im Kampf für Abrüstung und Frieden im Schatten der Neutronenbombe, bei der Veränderung der Lebensverhältnisse in der DDR durch seinen Kontakt zu Rudolf Bahro und auch in der Bundesrepublik durch gemeinsam Auftritte mit Rudi Dutschke, Heinrich Böll, Klaus Staeck und anderen.
Die Friedens- und Ökologiefrage hat Beuys auch nach seinem vergeblichen Versuch, bei den Grünen ein Mandat zu erhalten, weiter forciert, die Demokratiefrage durch seine Forderung nach „Mehr Demokratie durch Volksabstimmung“ immer wieder als eine noch nicht gelöste angesehen. Dabei griff er auch immer wieder auf Ansätze seines „Aufruf zur Alternative“ vom 23.12.1978 zurück, in dem er bereits eine Zukunft einer sozialen Zukunft, verstärkte Anstrengungen zur weltweiten Abrüstung, aktive Maßnahmen gegen das gestörte Verhältnis zur Natur, ein verträgliches (Welt-)Wirtschaften und fundamentale Schritte gegen die wachsende Bewusstseins- und Sinnkrise einforderte. All diese Aktivitäten verdeutlichen, wie ernst und wie weitgehend Beuys seine These „Jeder Mensch ist ein Künstler“ als Gestalter seiner Welt verstanden hat.
Mit seiner fürsorglichen Weitsicht, das Leben der Bäume in den Blick zu nehmen und in den Bäumen das Abbild eines Friedens mit unseren Seelen zu finden, hat Beuys lange vor dem Absterben hektargroßer Waldflächen angemahnt, die Welt nicht nur aus einem partiellen – ökonomischen, profitorientierten, ausbeuterischen und insgesamt vermeintlich eigennützigen – Blick zu sehen. Spätestens wenn die massigen Eisflächen Grönlands verschwunden, unsere Wälder gerodet, Lebensmittel aus noch ferneren Regionen importiert, Lebensbedingungen von Menschen anderer Regionen zerstört und die internationalen Konflikte kaum mehr zu steuern sind, werden wir merken, dass das Wohlergehen unserer Bäume ein sehr nahe liegender, guter Sensor sein könnte, wie wir unser Leben sinnvoller gestalten können.
Beuys 100
Für die Beteiligung an diesem Band zu Joseph Beuys 100. Geburtstag konnten wir sehr kompetente Autorinnen und Autoren gewinnen. Sie kennen sich alle in der Gedankenwelt von Beuys hervorragend aus, finden aber ganz unterschiedliche Zugänge. Man wird also kein Studium der Kunstgeschichte benötigen, um über Joseph Beuys noch etwas bisher Unbekanntes zu erfahren.
„Zeit mit Beuys / Zeit nach Beuys“
Rhea Thönges-Stringaris, langjährige Wegbegleiterin von Beuys und Gründerin der Kasseler Free International University (FIU) und Andres Veiel, vielfältig gefeierter Regisseur des Films BEUYS, den die SÜDWESTPRESSE mit den Worten belobigt: „Man erkennt: So einer wie Joseph Beuys fehlt“ – diese beiden nähern sich unter der Überschrift „Zeit mit Beuys / Zeit nach Beuys“ auf einespannende Weise in einem sich narrativ entwickelnden Gespräch den vielen Facetten des Schaffens von Beuys an: Den ökologischen und künstlerischen Aktionen, der Weiterentwicklung unserer Demokratie, den wahren Wirtschaftswerten und der tieferen Bedeutung von Kreativität und Kapital. Natürlich werden auch seine vielen markanten Beteiligungen an der documenta – nicht zuletzt die „7000 Eichen“ gewürdigt und vertiefend analysiert. Dabei bewegen sie sich ganz auf dem Gedanken von Beuys „Die Ursache liegt in der Zukunft.“
Zeit für Beuys – ein Blick aus dem Fridericianum
Als Generaldirektorin der documenta gGmbH lenkt Sabine Schormann den Blick auf fundamentale Positionierungen von Beuys, der mit seinen Ansätzen über die „Soziale Plastik“, „Jeder Mensch ein Künstler“ und dem „Gesamtkunstwerk zukünftiger Gesellschaftsordnung“ Signale setzt, wie philosophisches Gedankengut ganz praktisch in die Tat umsetzbar sei und damit als einer der wichtigsten gesellschaftskritischen Künstler des 20. Jahrhunderts gelte. Seine sozialen, gesellschaftlichen, politischen, ökonomischen und ökologischen Fragestellungen erführen heute eine wachsende Aktualität. Sie schlägt einen Bogen zur Kuratorengruppe ruangrupa der documenta 15, die sie in der Überzeugung, dass Menschen mithilfe ihrer Kreativität im Zusammenwirken die Welt verändern können, in gedanklicher Nähe zu Beuys sieht. Kollektives, dialogisches Handeln, Partizipation, Solidarität, Empathie und Großzügigkeit entdeckt sie als gemeinsame Verbindungslinien zu Beuys.
Wo ist Joseph Beuys? Eine Verschwörungstheorie
Der frühere Direktor des „Hamburger Bahnhofs“ in Berlin, Eugen Blume, nähert sich Beuys auf eine faszinierende biografische Weise. Als jungem Bürger der DDR galt ihm der wie ein staatenloser Rebell daherkommende Beuys als unterstützende Instanz auf der Suche nach Wahrheit. Aber selbst die einzige Möglichkeit, ihn einmal persönlich zu treffen, scheiterte bereits im Ansatz: Allein bei der Vorstellung, er könne Beuys‘ Ausstellung „Multiplizierte Kunst“ (1981) in der Ständigen Vertretung der BRD im quasi exterritorialen Ostberlin besuchen, drohte sein Vorgesetzter mit fristloser Kündigung.
So lebte Beuys für ihn in politischer Nähe der für ihn erfahrbaren linken Opposition – in einer Zeit, in der die Reformierbarkeit der DDR noch denkbar war. Eugen Blume beschreibt seine Rezeption der ersten Besuche von Beuys-Ausstellungen um die Zeit der Grenzöffnung und analysiert die Impulse, die Beuys von dem Anthroposophen Rudolf Steiner aufgegriffen hatte.
Ich und Beuys
Heiner Georgsdorf überrascht uns mit seinen „Marginalen Erinnerungen“ an Beuys. Episoden persönlicher Begegnungen, sein Einblick in Dokumente aus Archiven und seiner eigenen Zeit als Professor an der Kasseler Kunsthochschule, Auseinandersetzungen mit den Sujets diverser Ausstellungen – nicht zuletzt auch als Mitarbeiter bei der documenta und als Vorsitzender des Kunstvereins – bieten einen umfangreichen Fundus für den Schatz seiner Annäherungen. Dabei kommen auch intime Betrachtungen mit eigenen Kunstvorlieben, Rettungstaten für den Verbleib des wunderbaren „Rudels“ in Kassel, seine Auseinandersetzung mit journalistischen Anstachelungen des „Volkszorns“, bisweilen anregende Besuche und Sammlungen und Schilderungen, wie er selbst einmal aneckte, nicht zu kurz.
Beuys aus der Sicht der nächsten Generation
Daniel Opper bewegt sich biografisch parallel zur Planung und Pflanzung der „7000 Eichen“. Als Zweijähriger hat er Beuys‘ aufgeschichtete Basaltstelen als Klettergarten erobert. Aus dieser haptischen Erfahrung ist mittlerweile eine schon frühe, vertiefte Auseinandersetzung mit den Anregungen durch Beuys geworden. Er hat als einer der Initiatoren bereits während seiner Schulzeit in Kassel eine Jugendzukunftskonferenz mitorganisiert, in der Fragen, Analysen und Anforderungen an die Mitgestaltung zukünftiger Welten diskutiert wurden. Schon in dieser Phase wurden Fragen zu Verantwortung, Ökologie, Gerechtigkeit und Partizipation aufgeworfen. Heute als Leiter des „Bucerius Lab“ der ZEIT-Stiftung agiert er in großer Nähe zur Gedankenwelt von Beuys in der Sphäre von ökonomischen, ökologischen, gesellschaftlichen und kommunitären Aktionsformen, die zur Sicherung und Weiterentwicklung unserer Zukunft beitragen können. Damit nimmt er die Herausforderungen für seine Generation an.
Die „Aktion 7000 Eichen“
Martin Groh ist der Chronist für viele Planungsabläufe, Konzeptionen, Realisierungen und Auseinandersetzungen zur „Aktion 7000 Eichen“. Als Wissenschaftler im documenta Archiv sitzt er unmittelbar an der Quelle vieler Dokumente und Bildzeugnisse. Dadurch sind ihm Vorstellungen von Beuys, die handelnden Personen mit ihrer Kooperationsbereitschaft und ihren Widerständen, das jeweilige Selbstverständnis beteiligter Institutionen und der gesellschaftliche Diskurs vertraut. Seine umfassende Schilderung der laufenden Ereignisse stellt ein profundes Nachschlagwerk zur erstmaligen Information oder auch zum Schließen aufgetauchter Gedächtnislücken dar. Durch seinen detaillierten Blick über gut fünf Jahre lässt er den künstlerischen Ansatz von Beuys, die herkulische Leistung vieler Beteiligter und die Bedeutung des Kunstwerkes für Kassel noch einmal aufleuchten.
Was unterscheidet Bäumepflanzen vom Bäumepflanzen als Kunstwerk?
Johannes Stüttgen nimmt uns mit auf einen Gedankengang, der den Unterschied zwischen dem Pflanzen von Bäumen und dem Bäumepflanzen als Idee eines Kunstwerks herauskristallisiert. Er verdeutlicht, dass bereits in dem Moment, in dem wir nicht nur den botanischen Vorgang sehen, sondern den umfassenderen Begriff der Natur einbeziehen, einen breiten Teppich von Bezügen ausrollen, die unmittelbar in diesem Vorgang angesprochen werden: Ökonomie, Produktion, Konsum, Geldordnung, Nutzungsformen des öffentlichen Raumes, Wissenschaften, Politik, Zeit, usw. Wie sich eine Idee materialisiert, wer einbezogen und wer ausgeschlossen wird, wie aus der gepflanzten Materie wieder weitere Ideen entwickelt werden – auf diese Zusammenhänge macht Johannes Stüttgen mit dem Bäumepflanzen als Kunstwerk aufmerksam.
STATT – Die wachsende Provokation
Auch Harald Kimpel begibt sich auf eine Reise durch einige KunstWelten, um auf einen Unterschied hinzuweisen: Den Unterschied zwischen den „7000 Eichen“ und einigen weiteren Kunstwerken, die sich auch mit ökologischen Aspekten beschäftigen.
Eine Reihe anderer berühmter Kunstwerke unterscheidet er von den „7000 Eichen“, weil diese eben nicht als Skulptur oder Denk-Mal aufgestellt wurden, sondern mit der Auswahl ihrer Pflanzorte, mit ihrer massiven Präsenz eine eigene ästhetische Debatte über ihren Sinn und Zweck provozieren. Die Kasseler*innen, die den Aufruhr über das fünfjährige Basaltstelenlager auf dem Friedrichsplatz noch im Sinn haben, wissen, wovon er spricht. Die „7000 Eichen“ sind eben nicht nur temporäre Erscheinung. Die 300 Bäume im Fußballstadion in Klagenfurt wurden z. B. nur vorübergehend auf Blechplatten abgestellt, damit der Boden nicht beschädigt wird, um dann nach Ende der Aktion wieder entfernt zu werden. Den „7000 Eichen“ misst Harald Kimpel orts- und zeitübergreifendes Widerstandspotential zu, das dauerhaft etwas Besseres an die Stelle von Bedürftigem setzt.
So einfach war das nicht
Hans Eichel ist für die „7000 Eichen – Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung“ ein wichtiger Akteur gewesen: als Vorsitzender des Aufsichtsrats der documenta und als Oberbürgermeister an der Spitze der kommunalen Verwaltung – mit Wirkung nach innen und nach außen. So war er ein durchaus intimer Kenner der Abläufe. In vielen Gesprächen mit Joseph Beuys selbst, mit Amtsleitungen, Medien und anderen Institutionen hatte er die Doppelfunktion, der documenta Unterstützung und freien Raum zu gewährleisten, zugleich auch den öffentlichen Frieden in der Bürgerschaft zu bewahren. Das war nicht immer leicht. In seinem Beitrag wandelt er den Untertitel von Beuys‘ Aktion um in „Stadtverwaldung mit Hilfe der Stadtverwaltung“. Im dialektischen Prozess der Annäherung spricht er von konstruktiver Zusammenarbeit und hebt das wachsende Bewusstsein der Städter für die natürlichen Grundlagen des Lebens hervor.
Beuys in Italien
Petra Richter nimmt uns mit auf eine anregend-informative Reise nach Süditalien. Sie hat über Beuys nicht nur promoviert, sondern auch viel publiziert. In ihrem Beitrag berichtet sie von Beuys‘ Ausstellung „La rivoluzione siamo Noi“ (Die Revolution sind wir) 1971 in Neapel. Auch in Italien warb er dafür, „sich nicht mit Missständen abzufinden, sondern die Welt als seine veränderbare zu denken.“ Wir erfahren über Beuys‘ Aktivitäten in Italien – insbesondere nach dem gewaltigen Erdbeben in der Nähe Neapels, wo Beuys dann zu Solidaritäts- und Diskussionsveranstaltungen anwesend war und auch materielle Hilfe leistete. Das verheerende Erdbeben in Irpina war der Ausgangspunkt für künstlerische Arbeiten Terremotto / Erdbeben, in denen er Zerbrechlichkeit und gefährdete Balance thematisierte. Hier und später auch auf Sizilien thematisierte er aber nicht nur dieses Naturereignis, sondern warb für Hoffnung und Aktionen, um die sozialen Probleme der Region zu wenden
Beuys in Chicago
Paul Coffey ist Vize-Dekan einer Kunsthochschule im Stadtteil North Lawndale in Chicago, USA. Dieser Stadtteil ist mit vielen sozialen Problemen konfrontiert, so dass die Vermutung reifte, man könne ihnen nur mit der Gestaltung einer „Sozialen Skulptur“ begegnen. Deshalb hat er 2017 mit einer kleinen Delegation Kassel besucht, um die „7000 Eichen“ in Augenschein zu nehmen. Nach Begehungen und intensiven Gesprächen fühlten sie sich so inspiriert, dass sie beschlossen, in Chicago 7.000 Bäume zu pflanzen. Mittlerweile sind davon bereits über 2.000 Bäume mit Unterstützung von Institutionen und Nachbarschaftsgemeinschaften gepflanzt, eine Ausbildungsstätte eingerichtet, Park- und Obstbäume gepflanzt. Der Bericht aus Chicago schildert das durch Beuys animierte Projekt – bis hin zu einer vom mexikanischen Künstler Pedro Reyes inszenierten Aktion, die abgegebene Schusswaffen einschmolz und daraus Pflanz-Schaufeln fertigte.
„Wäre Beuys mir nicht ein Rätsel. Wäre ich nicht hier.“
Dirk Schwarze war für viele Jahre der Chronist vor allem der zeitgenössischen Kunst. Seine Website führt an die 2.000 Artikel auf – allein über Joseph Beuys sind es 75. Zu Beuys‘ Tod schrieb er einen Nachruf „Kräfte des Lebens“, in dem er Stationen seines Lebens und seiner Kunst ansprach. Wenige Tage später verfasste er einen zweiten Nachruf „Das ist nur ein Beginn“ – eine Sequenz aus einem Gespräch zwischen Joseph Beuys und Heiner Bastian, in dem er eine Vision anriss, wie weit sich der Mensch noch weiterentwickeln könnte, weiterentwickeln sollte. Zum 12. Mai 1986, der Tag, an dem Beuys 65 Jahre alt geworden wäre, fügte er eine weitere Erinnerung „Aus Kunst wird Leben“ hinzu, in der er die auf Dauer angelegte Skulptur „7000 Eichen“ ansprach, mit der Beuys mit seiner Kunst der Stadt Kassel wieder Leben eingehaucht hatte. Und er zitierte Wieland Schmied, der seine Faszination für Beuys mit den Worten ausdrückte: „Wäre Beuys mir nicht ein Rätsel. Wäre ich nicht hier.“
Für die anregenden Gedanken der Autorinnen und Autoren, der wunderbaren Kooperation mit Sabine Kemna vom euregioverlag und Bernhard Wollborn vom Atelier Grotesk, dem documenta Archiv für die gute Zusammenarbeit und der Kasseler Sparkasse für den Mut, sich dieses komplexen Themas anzunehmen, bedanke ich mich mit großer Freude.
Volker Schäfer
Leseproben
Josef und Joseph. Eine schöne Beuys-BegegnungMarginale Erinnerungen 1
Heiner Georgsdorf
Sie gehört zu meinen schönsten Beuys-Begegnungen, die Begegnung mit Josef Froehlich. Meine Suche nach Beuys-Blättern für eine Aquarell-Ausstellung führte mich Mitte der achtziger Jahre in das Haus des Sammlers in Stuttgart. Ganz unprätentiös, ohne jegliche Attitüde, eher sich zurücknehmend, erzählte mir der Unternehmer, Inhaber einer Maschinenfabrik, wie er Beuys kennen lernte und sich zwischen Joseph und Josef eine freundschaftliche Beziehung entwickelte, die weit über das hinausging, was ihn mit anderen Künstlern, von denen er Werke sammelte, verband. Seine Begegnung mit Beuys – aber sollte man nicht eher sagen: seine Berührung durch Beuys – hatte Folgen. Bis in das alltägliche Umfeld. Alles musste raus, was Josef und Anna Froehlich bisher als Kunst genügte. Es verschwanden all die silbern und golden gerahmten Bruno Brunis und Wunderlichs und ähnliches Dekor des gehobenen Geschmacks, wie mir Froehlich mit selbstironischem Unterton berichtete. Nicht nur die Wände, auch die Räume leerten sich – und blieben leer. Die Wände wurden weiß gestrichen, auf dem Fußboden Holzdielen verlegt. In einem großen, leeren Raum aber – es war das Wohnzimmer – standen Bilder auf dem Boden, an die Wand gelehnt –getreu Picassos Diktum: Der Nagel an der Wand ist der Tod des Bildes! Etwa dreißig Bilder waren das, in zwei, drei Stapeln, alle im gleichen Hochformat von ca. 80x60cm, verglast, der Rahmen aus hellen Holzleisten. Auf weißem Grund war jeweils eine Papierarbeit aufgebracht, mal eine Bleistiftzeichnung, mal ein Aquarell oder eine Tuschezeichnung, immer mit Beuys-Signatur. Erst ein paar Tage zuvor hatte Beuys die neueste Erwerbung vorbeigebracht: ein grauer Pappdeckel mit blauem Klebstreifen am oberen Rand: die Rückseite eines sehr kleinen Notizblocks, bekritzelt mit Zahlen und Schrift. Auch dieses Objet trouvé aus seinem Atelier war mittig aufgebracht und von Beuys signiert worden. Und sollte auch ebenso viel kosten. Der Ehrgeiz des Sammlers hatte sich mit der Zahl hundert eine Ziellinie und ein Limit gesetzt; auf so viele Arbeiten dieser Art sollte sein ganz persönlicher ‚Beuys-Block’ im Laufe der Zeit anwachsen. Das Vorhaben hat mich damals sehr beeindruckt, auch die Gemälde von anderen Künstlern wie Baselitz oder Knoebel, die da im Haus zu sehen waren.
Aber zuvörderst beeindruckt hat mich doch der Sammler selbst, der hier, offensichtlich ohne jegliches Interesse an spekulativer Gewinnmaximierung, sein neues Ambiente, schlicht und reich zugleich ausgestattet, genoss – ein wenig selbst darüber erstaunt, über das Glück, Teil einer Welt zu sein, die seiner Arbeitswelt eigentlich ziemlich wesensfremd sein durfte. Aber Beuys sorgte auch hier für einen Brückenschlag. Da gab es ein schmales, längliches Abstellbrett in der Lackiererei. Im Lauf der Zeit hatte eine dicke Schicht aus Silberbronze das schwache Relief der Gebrauchspuren mit einer gleichmachenden Schicht überzogen. Beuys hat das Brett senkrecht gestellt, prähistorische Mammuts eingeritzt, und unversehens war daraus eine Stele aus einer archaischen Science-Fiction-Epoche entstanden. Oben ließ Beuys sein Taschentuch baumeln, das zuvor beim Transport vor dem aus dem Kofferraum ragenden Brett gewarnt hatte. Ähnlich erging es einem jener mobilen Raumteiler aus opakem Plexiglas, wie man sie in Fabrikräumen zum Schutz von Arbeitsplätzen einsetzt. Die durch jahrelange Nutzung ästhetisch eindrucksvoll verschlissene Oberfläche war an einer Stelle zersplittert. Dieses Loch hat Beuys mit Klebstreifen „versorgt“ und zwei Karbidlampen eingehängt und so das triviale Gestell in eine magische Bildtafel verwandelt.
Heute ist die Sammlung Froehlich öffentlich zugänglich. In einem Ausstellungsgebäude auf dem Gelände der Maschinenfabrik J.W. Froehlich in Leinfelden-Echterdingen. Die beeindruckende Künstlerliste reicht von Artschwager bis Warhol. Jeder Künstler ist in der Regel mit mehreren Arbeiten vertreten. Josef Froehlich war es übrigens, der seinerzeit den goldenen Hasen kaufte und der Staatsgalerie in Stuttgart als Leihgabe überließ. Jener „Friedenshase“, welcher aus dem Gold der Zarenkronenkopie entstand, die Beuys 1982 in einer öffentlichen Aktion auf dem Kasseler Friedrichsplatz zu Beginn der documenta 7 einschmolz. Der Erwerb des Hasen durch Froehlich sicherte die Anlauffinanzierung für das documenta-Projekt „7000 Eichen“. Ein mäzenatischer Kauf also.