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Euregioverlag - Kassel & Region, Kunst & Kultur
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Benzing, Ursula
Oper ohne Worte?
Versuch einer Bestimmung von Standort und Selbstverständnis des heutigen Musiktheaters



Umfang: 340 Seiten, Paperback



euregioverlag 2010

ISBN: 978-3-933617-43-9



Die Operndirektorin und leitende Musikdramaturgin des Staatstheaters Kassel Ursula Benzing unternimmt hier eine Standortbestimmung des heutigen Musiktheaters und fragt nach den Erwartungshaltungen von Opernbesuchern, da sich die Oper auch in der Auseinandersetzung mit ihrem Publikum entwickelt.
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Rezensionen
„Was ist eine Oper? Dieser Frage geht Ursula Benzing, Leitende Musikdramaturgin und Operndirektorin am Staatstheater Kassel, in ihrer nun als Buch erschienenen Dissertation mit dem zunächst etwas rätselhaften Titel 'Oper ohne Worte?' nach. Zwei Themenkomplexe stehen bei der Untersuchung im Vordergrund. Da ist zum einen die – für Außenstehende vielleicht nicht sonderlich wichtige – Frage, wie man 'Oper / Neue Oper' von 'Musiktheater' unterscheidet. Benzing befragt einige Experten und plädiert dann für eine neue Gattung '(Neues) Musiktheater', unter die sich alle Bühnenwerke fassen lassen, die in Inhalt, Form und Aufführungsort kaum noch Gemeinsamkeiten mit der vierhundert Jahre alten Mutter Oper haben. Allerdings lassen sich die zitierten Sichtweisen kaum mit diesem Postulat vereinbaren. Der Regisseur und Festspielleiter Peter Ruzicka zum Beispiel sagt: 'Die begriffliche Differenzierung ist für mich ohnehin nicht sehr relevant', und der Komponist Heiner Goebbels gibt offen zu, dass er sein Werk 'Landschaft mit entfernten Verwandten' nur deshalb 'Oper' nannte, damit mehr Kritiker angelockt würden. Ursula Benzing wird angesichts solch divergierender Aussagen von Personen aus der Praxis über ihre eigene These skeptisch: 'Vielleicht muss [man] noch einmal die nächsten zehn Jahre weiter beobachten, wohin sich die Oper, die Neue Oper und das Musiktheater entwickeln.' Interessanter ist der Teil, der Benzings praktische Erfahrungen am Theater Heilbronn berücksichtigt. Die Erwartungen des Publikums an die Oper, der Umgang der Theatermacher damit und die Bewertungen der Presse spielen hier eine große Rolle. Zehn längere Interviews mit Regisseuren, Komponisten, Dirigenten und Kritikern, deren wichtigste Aussagen die einzelnen Kapitel durchziehen, stehen am Ende des Buches, dem man die ganz unakademisch glühende Leidenschaft der Theaterfrau für die Oper (bzw. das Musiktheater) anmerkt. An zentraler Stelle wird Peter Konwitschny zitiert: 'Wenn man verfügen könnte, dass alle Menschen in die Oper gehen müssten, dann wäre das möglicherweise die Rettung unserer Zivilisation.'" (Kulturmagazin K, 2011)

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Oper ohne Worte?



Versuch einer Bestimmung von Standort und Selbstverständnis des heutigen Musiktheaters



Die Operndirektorin und leitende Musikdramaturgin des Staatstheaters Kassel Ursula Benzing unternimmt hier eine Standortbestimmung des heutigen Musiktheaters und fragt nach den Erwartungshaltungen von Opernbesuchern, da sich die Oper auch in der Auseinandersetzung mit ihrem Publikum entwickelt. Vor allem aber erkundet Ursula Benzing, wie Opernschaffende und Kritiker die derzeitige Situation der Oper sehen. Dazu führte die Autorin eine Reihe von Experteninterviews u. a. mit Heiner Goebbels, Peter Ruzicka, Claus Guth, Johannes Kalitzke und Peter Rundel. Die zentrale Frage des Buches ist: Hat die Zukunft eine Oper, hat die Oper eine Zukunft?



Ursula Benzing

Nach zehnjähriger Tätigkeit im Gesundheitswesen studierte Ursula Benzing Musikwissenschaft, Kulturwissenschaft und Französische Romanistik. Bereits während des Studiums entdeckte sie ihre Begeisterung für die Opernwelt. Seit der Spielzeit 2011/12 ist sie Operndirektorin des Staatstheaters Kassel. Sie engagiert sich für die Vermittlung der Oper und das Musiktheaters heute und baut dabei auf einen lebendigen Austausch mit dem Opernpublikum.
Inhalt
Vorwort

1 Einleitung 1

1.1 Problemstellung 5

1.2 Forschungsstand 8

1.2.1 Zur Begrifflichkeit „Oper“ und „Musiktheater“ 8

1.2.2 Zur „Gattungsfrage“ 13

1.2.3 Zur Oper und ihrer öffentlichen Rezeption 16

1.2.4 Zum Standort des heutigen Musiktheaters 18

1.3 Zielsetzung und Methodik 19

2 Die Oper 31

2.1 Was ist eine Oper? 31

2.2 Zum Phänomen einer komplexen Kunstform: „Wesen“ und

„Sein“ der Oper 33

2.3 Musikdramatisches Theater im 17. Jahrhundert 41

2.3.1 Vom Werden der Oper – Anmerkungen 41

2.3.2 „L’Euridice“, „L’Orfeo“ und „La serva padrona“ 42

2.4 Musikdramatisches Theater im frühen 18. Jahrhundert . . . 44

2.4.1 Ein Dramma per musica:

„Xerxes“ von Georg Friedrich Händel 45

2.4.2 Ein Melodramma:

„Telemaco“ von Alessandro Scarlatti 47

2.5 Musikdramatisches Theater im späten 18. Jahrhundert . . . 51

2.5.1 Ein sinfonisches Musikdrama:

„Idomeneo, Re di Creta“ von Wolfgang Amadeus Mozart . . . 53

2.6 MusikdramatischesTheater im 19. Jahrhundert 55

2.6.1 Ein Dramma tragico:

„Lucia di Lammermoor“ von Gaetano Donizetti 58

2.6.2 AufdemWeg zumMusikdrama:

Der Fall „Tannhäuser“ von Richard Wagner 60

2.7 Musikdramatisches Theater im 20. und frühen 21. Jahrhundert 62

2.7.1 Aufbruch ins 20. Jahrhundert:

„Jenufa“ von Leoš Janá_cek 64

2.7.2 Stationen der neueren Operngeschichte des 20. und frühen

21. Jahrhunderts 66

2.8 Zusammenfassung 83

3 Das Musiktheater 87

3.1 Was ist Musiktheater? Drei Begriffsdefinitionen im 20. Jahr_

hundert 87



3.2 Werke des Musiktheaters im 20. Jahrhundert 91

3.3 Neue Werke des Musiktheaters 96

4 Merkmale der Oper und des Musiktheaters 111

4.1 Zum methodischen Vorgehen 111

4.2 Kategorisierung der Merkmale und deren allgemeine Bedeutung 120

4.3 Spezifische Merkmale der Oper (O), Neuen Oper (NO), des Mu_

siktheaters (MT): Ihre Unterscheidungsmerkmale und Zuord_

nungsmerkmale 121

4.4 Charakterisierende Merkmale der neuen Werke des Musikthea_

ters und ihre Zuweisung 123

4.4.1 Schlussfolgerung 125

4.5 Neue Werke des Musiktheaters: Auswertende Zusammenfassung 125

4.6 Ergebnis 130

5 Die Gattungsfrage 135

5.1 Wie konstituiert sich eine (neue) Gattung? 137

5.2 Kriterien der Gattungskonstituierung 139

5.3 Zusammenfassung 140

6 Begriffsdiskussion 143

6.1 Ergebnis 153

7 Gattung anders befragt 155

7.1 Zusammenfassung 157

8 Die Oper und ihre öffentliche Rezeption 159

8.1 Die Oper und die Gesellschaft 159

8.2 Die Oper und ihr Publikum 167

8.3 Zusammenfassung 190

8.4 „Im Konsens mit dem Publikum“: Die Vermittlung der Oper 190

8.5 Empfehlungen für die Vermittlung von Bekanntem und Neuem 194

9 „Was ihr wollt!“ – Kulturpolitik heute 201

9.1 Zusammenfassung der Expertenmeinungen und Vorschläge für

die Verwirklichung von künstlerischen Zielen in der Oper. . . 211

9.2 Zur Kulturpolitik: Ein Fazit zur Standortbestimmung der Oper

und des Musiktheaters 213

10 Ausblick: Hat die Zukunft eine Oper, hat die Oper eine Zukunft? 219

11 Abschluss 225

Literatur 227



Anhang: Expertengespräche 235

„Man muss das Publikum verführen“ – Gespräch mit der Regisseurin Barbara Beyer am 2. August 2006 in Berlin 235

„Die Oper kann ganz große Kräfte agieren lassen“ – Gespräch mit Prof

Heiner Goebbels am 3. Juli 2006 in Frankfurt am Main 244

„Kunst braucht einen Zeitfaktor“ – Gespräch mit dem Regisseur Claus

Guth am 18. August 2006 in Salzburg 255

„Den Leuten einen Weg zu sich selbst eröffnen“ – Gespräch mit dem Dirigenten und Komponisten Johannes Kalitzke am 18. August 2006 in Salzburg 264

„Es kann nur Oper heißen“ – Gespräch mit Prof. Dr. Klaus­Peter Kehr, Künstlerischer Leiter Schwetzinger Festspiele (bis 2008) und Operndirektor Nationaltheater Mannheim, am 26. Juni 2006 in Mannheim 275

„Das Publikum sprachlos machen“ – Gespräch mit dem Komponisten Wolfgang Mitterer am 16. August 2006 in Wien 283

„Die Liebe zu den Werken“ – Gespräch mit dem Dirigenten Peter Run_

del am 22. Dezember 2006 in Berlin 291

„In ihrer Unvorhersehbarkeit liegt die Zukunft der Oper“ – Gespräch mit Prof. Dr. Peter Ruzicka, Komponist und Dirigent, Künstlerischer Leiter der Münchener Biennale und der Salzburger Festspiele (bis 2006), am 18. August 2006 in Salzburg 298

„Fortschritte gibt es nur unter Krämpfen und Zuckungen“ – Gespräch mit dem Musikkritiker Dr. Uwe Schweikert am 2. Juli 2006 in Stuttgart 306

„Eine einzigartige Transformation von Leben“ – Gespräch mit dem Musikkritiker Michael Struck­Schloen am 14. August 2006 in Heilbronn 316



Vorwort
Leseproben
„Man muss das Publikum verführen“

Auszug aus einem Gespräch Ursula Benzings mit der Regisseurin Barbara Beyer am 2. August 2006 in Berlin



Was macht die Faszination der Oper aus?

Das muss man sehr grundsätzlich beantworten. Dass es Musik gibt, und dass durch diese Emotionen geweckt werden, die von einer solchen Intensität und Stärke sind, die, würde man nur mit Worten einen theatralen Zusammenhang bauen, nicht zu erreichen wäre.



Ist die Oper dann auch die faszinierendere Gattung im Vergleich zum Schauspiel?

Nein, das würde ich nicht gegeneinander ausspielen. Aber die Frage nach der Faszination der Oper steht noch im Raum: Im Theater kann man andere Zusammenhänge herausstellen und diese interessant machen. Dazu gehört auch, dass in irgendeiner Form immer auch die menschliche Stimme, der Gesang, Thema ist.



Das Ausdrucksmittel Stimme, den leibhaftigen Menschen-Darsteller, das Orchester – braucht man in der zeitgenössischen Oper diese „Mittel“ überhaupt noch?

Das ist keine Frage des Brauchens, sondern eine des Sinn-machens. Du kannst die Stimme vielfältig benutzen. Wie ein Instrument, du kannst sie aber auch im Sinne eines kantablen Zusammenhangs, also gesangsmäßig einsetzen. Es gibt Beispiele, die sich des ganzen Funduss der Musikgeschichte bedienen. Und wo in der elektronischen Musik auch der Darsteller eine Funktion hat, wo Orchesterinstrumente eine wesentliche Rolle spielen, nun aber in einer anderen Form als der der traditionellen Oper. Das ist der wesentliche Unterschied, der sich dann im 20. Jahrhundert immer mehr zeigt: da werden die Hierarchien aufgehoben. Das heißt, es geht nicht mehr darum, eine Handlung musikalisch zu formulieren, oder dass, wie in der italienischen Oper des 19. Jahrhunderts, das Orchester die Stimme trägt oder begleitet. Diese ganzen Selbstverständlichkeiten oder Formen, in denen sich traditionelle Oper formuliert hat, sind nun aufgehoben. Deshalb kann man trotzdem die einzelnen Parameter von Oper einsetzen. olfgang Rihm sagt, hier ginge es nicht mehr darum, Subjekte auf der Bühne agieren zu lassen, das Theater selbst sei vielmehr Subjekt. Wenn die Bedingungen der Welt sich verändern, und sie haben sich verändert, wird auch der Subjektbegriff in Frage gestellt. Das Individuum spielt nicht mehr die Rolle, die es noch vor 100 Jahren gespielt hat, die Vorstellung eines Charakters ist gänzlich obsolet geworden. Der Einzelne tritt nur noch durch Facetten in Erscheinung, in bestimmten Situationen, durch bestimmte Haltungen, oder es geht um die Aufspaltung von Persönlichkeiten. Die Erkenntnisse aus der Psychoanalyse haben auch dazu beigetragen, ein neues Menschenbild zu entwickeln, das ist enorm brüchig geworden und die Entwürfe vom Menschen haben keinen Anspruch mehr auf Kohärenz und Vollständigkeit, auch das Geschlecht ist oft nicht mehr dingfest zu machen. Ich kenne Literatur, wo einfach nicht auszumachen ist, ob hier ein Mann oder eine Frau spricht, solche Phänomene haben ganz eminent mit unserer heutigen Lebenserfahrung zu tun, das wäre im 19. Jahrhundert undenkbar gewesen.



Was ist das dann, Oper, Musiktheater?

Ist es überhaupt interessant, das zu definieren? Es gibt so viele musiktheatrale Vorgänge, von denen ich nicht weiß, soll man das jetzt Oper nennen oder nicht. Das interessiert mich auch nicht. Man kann neue Begriffe ins Leben rufen, das ist sinnvoll, wenn es unserem Denken neue Türen öffnet, wenn wir dadurch in die Lage gebracht werden einen Zusammenhang neu und anders zu denken. Wichtig ist, dass die Begriffe kommunizierbar sind, dass wir alle wissen, wovon wir gerade sprechen.



Wenn man „Musiktheater“ sagt, was meint man dann?

Der Begriff des Musiktheaters taucht bei Felsenstein zum ersten Mal auf, in der Kroll-Oper. Und nicht von ungefähr wird er aufgegriffen in der Ära Gielen-Zehelein. Da versteht man sich wahrscheinlich auch in einer guten Tradition und diese Tradition definierte sich dadurch, dass man einen sehr avancierten Begriff von Oper hatte, der eben Musiktheater gleich gesetzt wurde. Man hat da den Anspruch erhoben, Oper zeitgenössisch, gegenwartsnah, auf die Gegenwart bezogen, zu lesen. Das ist für mich die Definition. Natürlich gibt es heute auch neue Kompositionen, neues Musiktheater, die einen vergleichbaren Anspruch haben an das, was es ist: Nämlich auf unser Leben Antworten zu finden, beziehungsweise auf unser Leben zu reagieren und Fragen zu stellen. Und insofern ist der Begriff des Musiktheaters leider nicht geschützt, weil damit ja auch sehr viel Schindluder getrieben wird. Da kommen viele daher und sagen: Ich mache modernes Musiktheater und unterscheiden oft nicht zwischen dem Begriff der Aktualität und dem der Aktualisierung. Es kommt im modernen Gewande daher und ist im Grunde konservativ. Und die Aktualität eines Stückes zu erfassen, würde eben bedeuten, es auf Strukturen abzuklopfen, die denen unseres Lebens vergleichbar sind.

Für den Opernbesucher ist es nicht unwesentlich, ob zeitgenössische Oper oder Mozart darübersteht.



Haben sich die Formen der zeitgenössischen Oper in den letzten 20 Jahren geändert?

Es gibt die unterschiedlichsten Formen von Musiktheater, die in den letzten 20, man kann auch sagen in den letzten 50 Jahren, entstanden sind. Die neue Formen können sich in vielfältiger Weise zeigen. Zum einen im kompositorischen Material: Einer ausgefallenen Instrumentation, Elektronik, dem ungewöhnlichen Einsatz der Stimme, in der Verwendung zusätzlicher Mittel wie Video, es gibt zahlreiche Werke, die ohne Figuren auskommen, ohne eine kausal erzählte Geschichte, ohne Entwicklung. Interessant ist, dass viele Kompositionen durch Bühnenbildvorstellungen oder auch durch szenische Vorgänge, Form zu kreieren suchen, das heißt, sie verlassen sich nicht auf die Immanenz eines musikalischen Vorgangs, sondern greifen auf Außermusikalisches zurück. Zu den Parametern neuer Musik zählen also durchaus auch die szenische Aktion, das stumme Bild. Kurzum: Eine Emanzipation von den tradierten hierarchischen Parametern bzw. Dimensionen, in denen der musikalische Text und/oder das Libretto dominierend ist über alles andere, das sich unterordnet.

Aber sicher gibt es auch, wenn man an Henze oder an Wolfgang Rihm denkt, Komponisten, die so zusagen im Sinne einer Literaturoper sehr traditionell sind in ihrer Schreibweise. Und zum Teil, da will ich gar keine Namen nennen, kompositorisch hinter das zurückfallen, was man im frühen 20. oder gar im 19. Jahrhundert schon hatte. Das, was sich als zeitgenössisch gebärdet ist oft konservativ. Die Tatsache, dass es in den letzten 20 Jahren geschrieben wurde, sagt erstmal gar nichts. Es geht vielmehr darum, wie sich ein Komponist mit der Materie auseinandersetzt. Und da fühlt man sich heute im Gegensatz zu vor 50 Jahren, Stichwort „serielle Musik“, sehr viel weniger einem Formenkanon verpflichtet.



Heißt das, man kann heute alles machen?

Ja, und dass es keine Doktrin, aber eigentlich auch keine Basis mehr gibt, gegenüber der man sich abstößt. Dass man sich musikalisch also zu etwas Gegebenem in Widerspruch setzt und sich daran reibt, selbst das gibt es nicht mehr. Weil wir alles haben. Das ist auch ein Merkmal der Postmoderne: Eigentlich sind alle Möglichkeiten und Mittel, mit denen man Musiktheater gestalten kann, bereits erprobt. Heute geht es darum, damit intelligent umzugehen, alle Mittel originell und kreativ zu verbinden.



Dass dann doch etwas Neues entsteht?

Ja.



Ist die zeitgenössische Oper heute noch ein Ort der Sinnenvielfalt?

Gerade deshalb ist die Sinnenvielfalt im zeitgenössischen Musiktheater gefragt, weil es im Gegenteil an die einzelnen Sinne appelliert und das viel intensiver und mit einem größeren Anspruch, weil der Vorgang dispersiv funktioniert und weil ich mir die einzelnen Sinnesereignisse auf der Ebene des Hörens, des Sehens, des sich auf der Bühne-Ereignens häufig selbst zusammensetzen muss und entsprechend mehr gefordert bin.



Wie lautet der Auftrag eines Opernhauses an einen Komponisten?

Mit jedem Opernhaus haben wir einen institutionellen Rahmen, also eine Bühne, einen Orchestergraben und einen Zuschauerraum. Jeder Komponist wird sich an diese Struktur halten und wird ein Musiktheater schaffen, wo das Orchester da Platz nimmt, wo es immer Platz nimmt. Damit nähert sich eine solche Form automatisch, und das würde ich mal unterstellen, der traditionellen Oper an. Auch wenn es so wie ein Musiktheaterwerk gebaut ist. Ich denke an „Don Quichote“ von Hans Zender. Da hat jede Szene für sich genommen eigene Parameter, auf die es ankommt und auch mit dem Anspruch höchster Originalität. Trotzdem ist das, wenn man darauf schaut, in der Tradition.



Da sind die Merkmale, wie wir sie für die Repertoire-Oper formuliert haben, anwendbar und das Ergebnis ist Oper?

Ja. Aber dennoch ist das schwierig. Es gibt Orte, wie Bühne und Zuschauerraum, die eine Trennung vornehmen. Wenn da beispielsweise die Möglichkeiten der elektronischen Musik zum Tragen kommen, hat man noch einmal andere Ausgangsbedingungen, um ein anderes Theater in die Welt zu setzen.



Mit einem Opernhaus ist demnach ein struktureller Rahmen vorgegeben. Lassen die Produktionsbedingungen dann auch einen Rückschluss auf das künstlerische Ergebnis zu?

Ja, vorsichtig würde ich dir da zustimmen, weil mir da der Überblick fehlt. Wenn man an eine Adriana Hölszky denkt, die den Zuschauerraum mit beschallt und da auch Instrumentengruppen hineinsetzt, dann hat sie ja eine Form gefunden, diese traditionelle Guckkastensituation aufzuheben. Und das haben Nono und Zimmermann auch schon getan. Sie wussten ja immer, „wo“ sie sind. Und der Zuschauer weiß das dann auch. Ja, wenn du den Zuschauerraum verschluckst, das heißt die Klangquelle aus einer Richtung kommt, versetzt du den Zuschauer schon in eine andere Situation.



Wird dadurch, dass man sich für das Neue, das nicht unter dem Begriff „Oper“ zufassen ist, andere Spielstätten sucht, das zeitgenössische Musiktheater zu einer Sache der Akzeptanz gemacht?

Aber es gibt ja die Kompositionsaufträge an zeitgenössische Komponisten, in Aachen war das so. Zehelein hat einiges gemacht in Stuttgart, Mussbach hier an der Staatsoper. Es gibt diese Aufträge und das ist dann zeitgenössische Oper, daran führt kein Weg vorbei.



Weil es heute geschrieben ist?

Ja, und weil es auch vom kompositorischen Anspruch her oft sehr elaboriert ist.



Steckt hinter solch einem Auftrag ein ernsthaftes Anliegen oder hat das eine Alibifunktion?

Hauptsache, es passiert überhaupt. Egal, ob das aus einem schlechten Gewissen heraus passiert oder nicht.



Hat die Oper eine Chance, sich in einem etablierten Haus weiter zu entwickeln?

Lugi Nonos „Intolleranza“, „Al Gran sole“ oder „Prometeo“ sind auch in traditionellen Opernhäusern aufgeführt worden, „Prometeo“ war ja gedacht für eine Kirche; wenngleich es einem Nono egal war, wie man das bezeichnet, was er da gemacht hat.



Du hast mehrere Uraufführungen inszeniert, erging an Dich ein besonderer Auftrag hinsichtlich der Umsetzung?

Mit einer Uraufführung, die ich inszenieren soll, habe ich natürlich eine besondere Verantwortung, denn dieses Werk hat nicht existiert bis jetzt und ist noch nicht erprobt, und ich muss nun mit Hilfe, meistens der Partitur, die oft auch nicht so einfach zu lesen ist, eine Fantasie entwickeln, um auf der Bühne einen Zusammenhang zu erzählen. Man muss eine Form finden für das, was auf dem Papier fixiert ist. Das heißt, du hast einen ganz anderen Zugang zu so etwas, als wenn du es mit einer traditionellen Oper zu tun hast, wo du dich immer in einen bestimmten Zusammenhang stellst. Hier geht es eher umgekehrt darum, eine Form zu finden. Da muss man sehr aufpassen, dass man nicht in die Rolle dessen gerät, der die Dinge glättet, der dem ganzen Zusammenhang eine lineare Erzählweise aufdrückt, nur weil man sehen muss, dass das Ganze auf der Bühne erzählbar wird, in welcher Form auch immer. Das ist das eine. Dann werden natürlich auch Ansprüche von Seiten der Komponisten an dich herangetragen. Das ist ein wirkliches Phänomen und auch Problem von neuem Musiktheater, dass die Komponisten die Dimension von szenischen Vorgängen oder auch die Bühne als Bestandteil der Partitur mit aufnehmen. Ich denke an die Uraufführung von Steffen Schleiermachers „Cocain“. Er hatte sehr viele szenische Vorgänge in seine Partitur mit hineingedacht und hat diese entsprechend auch mit akustischen Verläufen in Verbindung gebracht. Damit stand ich vor dem Problem, dass ich das quasi als Regieanleitung nehmen sollte, um es auf die Bühne zubringen. Das ist aber ein Vorgang, der völlig uninteressant ist, weil dadurch nichts Neues entsteht. Das war ein Dilemma, denn ich musste mich fragen: Ignoriere ich das und gehe einfach meiner eigenen Fantasie nach oder finde ich eine Lösung für das, was er will. Viele Komponisten, das ist meine Erfahrung, die ich auch mit den Uraufführungen an den Hochschulen mache, denken sehr häufig schon szenisch und garantieren sich dadurch auch eine Form. Da schafft dann nicht mehr der immanente musikalische Zusammenhang die Struktur, sondern zum Beispiel ein Raumkonzept, das mit hineingenommen wird und das dann die Form garantiert.



Der Regisseur wäre für diese Komponisten dann nur der Ausführende?

Ja, der da keine Interpretation liefert, sondern eine Übersetzung auf die Bühne bringt.



Heißt das, der Komponist kommt auch zu den Proben?

Das ist von Fall zu Fall verschieden. Viele kommen zu den musikalischen Orchester- und Sitzproben.



Was ist für Dich das Spannende an einem Uraufführungsauftrag?

Wenn es gut läuft, wird man durch so eine Komposition auf neue Wege gelenkt. Da werden andere Formen der Wahrnehmung mit aufgegriffen, und es hat auch den Reiz des Frischen, des Unerprobten, des Abenteuers.



Braucht diese neue Tonsprache auch eine neue Theatersprache?

Das hängt von der Komposition ab. Es gibt natürlich heutige Musiktheaterkompositionen, die mit Video arbeiten, die gar keine lineare Geschichte mehr erzählen, da es die ursprünglichen Figuren auch nicht mehr gibt Das alles führt notgedrungen zu einer ganz anderen Theatersprache.



Und wie vermittelt man dieses Neue?

Ich glaube, es ist einem Alban Berg ziemlich egal gewesen, ob jemand die Zwölftonreihen heraushört oder nicht. Es ist die Frage, wie man einer hochkomplexen, musikalischen Form gerecht wird und wie man gleichzeitig einem Publikum so gerecht wird, dass es mitkommt. Alles, was man an Informationen, an Signalen, an Komplexität so einer Partitur in sich aufnimmt, sollte zum Tragen kommen. Man kann aber trotzdem auf der Bühne durchaus einen sinnlichen Zusammenhang herstellen, so dass es für das Publikum nachvollziehbar wird. Da stellt sich aber die Frage: Wer ist denn das Publikum? Das weiß man nicht. Und insofern kann man nur von sich ausgehen und muss sehen, dass die Dinge in irgendeiner Weise eine Klarheit behalten, dass man sie nachvollziehen kann. Dass der Zusammenhang verfolgbar und greifbar ist.



Das geschieht dann im unmittelbaren Theatererlebnis. Aber was kann im Vorfeld geleistet werden?

Das ist dann eher die Sache der Öffentlichkeitsarbeit eines Hauses. Dass man das näherbringt, in dem man einen Vortrag vorausschickt. Denn du kannst als Regisseur ja nur versuchen, so etwas sinnfällig zu machen. Eine Fantasie zu entwickeln, die eine vielfältige Übersetzung findet für das Potential, das du aus einer Partitur schöpfst.



Denkst du beim Inszenieren ans Publikum?

Nein.



Wie auch Komponisten nicht an ihre Zuhörer denken?

Ich glaube da schon auch ganz stark an die Intuition. Wenn ein musikalischer Text eine Qualität hat und etwas ist zwingend, überträgt sich das, ohne dass ich in der Lage sein muss, das zu analysieren. Und trotzdem muss man genau das dem Zuschauer sagen: Lassen Sie sich darauf ein. Da sind die Hörgewohnheiten ja doch sehr verdorben beziehungsweise nicht geschult. Wo kommt man denn in die Verlegenheit, Neue Musik zu hören, wenn man sich nicht zufällig in Konzerte verirrt. Das ist ein Dilemma, wofür auch das Publikum nichts kann.

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