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Euregioverlag - Kassel & Region, Kunst & Kultur
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Schulz-Jander, Eva; Jansen, Birgit; Trilling, Angelika; Valtink, Eveline und Fecke, Michael
Erinnern und Erben in Deutschland
Versuch einer Öffnung



Eva Schulz-Jander, Birgit Jansen, Angelika Trilling, Eveline Valtink und Michael Fecke (Hg.)



Mit Beiträgen von Aleida Assmann, Dan Bar-On, Heinz Bude, Esther Dischereit, Hilde Domin, Ursula Duba, Evelyn Friedlander, Heiner Georgsdorf, Jürgen Gidion, Jacqueline Giere, Frank-Rutger Hausmann, Martin Hein, Horst Hoheisel, Hans Keilson, Erna-Gisela Kölbel, Gottfried Kößler, Volkhard Knigge, Benyamin Maoz, Petra Mumme, Herfried Münkler, Christoph Münz, Hartmut Radebold, Tuvia Rübner, Helmut Schreier, Eva Schulz-Jander, Lore Walb, Silke Wenk, Jan Wojnar und Penny Yassour



Umfang: 335 Seiten mit 12 Abbildungen



euregioverlag 1999

ISBN: 978-3-933617-03-3



Das Buch sammelt Erinnerungen, Gedenken, Nach-Fühlen und Sichtbarmachen aus der Ersten Generation. Zum anderen zeigt es neue persönliche, kulturelle und wissenschaftliche Möglichkeiten des Erbens in der und aus der Zweiten, Dritten und Vierten Generation.

Preis: 24.90 €
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Rezensionen
Nachdrücklich erinnern uns die lesens- und bedenkenswerten Beiträge an die Unmöglichkeit der Versuche, den Holocaust historisch werden zu lassen, ihn gleichsam stillzustellen. Der Sammelband unterstreicht eindrucksvoll, dass die mit dem Holocaust gegebenen Fragen offengehalten werden müssen und jede Antwort, die der Geschichte einen Sinn abzuringen versucht, fragwürdig bleiben muss. Die von den einzelnen Beiträgern dieses Bandes immer wieder in den Mittelpunkt gerückte ,anamnetische Ethik schärft gerade an der Schwelle des neuen Jahrhunderts das Bewusstsein dafür, dass jedem Wissen ein Nicht-Wissen, jeder Erinnerung ein Vergessen und jeder Kohärenz der menschlichen Sprache nach Auschwitz ihre Inkohärenz eingeschrieben ist.

(Axel Schulz in literaturkritik.de )



"Offenbar entmutigt durch zahlreiche Publikationen zu dem weitläufigen Themenfeld ,Erinnerung, sehen sich die Herausgeber zu der Frage veranlaßt: Ist nicht schon längst alles gesagt? (14). In der Tat gesellt sich der Band einigen neueren Versuchen zu, durch eine Aufhebung von Trennungen zwischen den verschiedenen Disziplinen und Zugängen (15) größtmögliche Vielfalt sicherstellen zu wollen. Dieser Anspruch ist insbesondere dadurch eingelöst, daß zahlreiche Gedichte und teilweise schon publizierte Aufsätze zusätzlich zu den Referaten der Kasseler Veranstaltungsreihe von 1997/98 aufgenommen wurden, die Anlaß für die Edition dieses Bandes war. Ein Bündnis von Mitarbeiter/innen der Stadt Kassel, der Gesamthochschule, des Evangelischen Forums und der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit hat insgesamt 26 Beiträge gesammelt, von denen sich die Mehrzahl mit der Schoa und ihren Spätfolgen befaßt: in der israelischen Gesellschaft (Benjamin Maoz), in der Pädagogik in Deutschland (Helmut Schreier, Jacqueline Giere, Gottfried Kößler, Petra Mumme), am Beispiel von Praktiken des Erinnerns, etwa in Buchenwald (Volkhard Knigge) oder beim Berliner Denkmalprojekt, das als Symptom der Identifikation mit den Opfern und [der] Sakralisierung des Mordes (Silke Wenk) gelten kann. Wer bislang nicht mit der neueren Forschung zur Memotechnik bzw. Gedächtniskunst (Aleida Assmann), traditioneller (politologischer) Mythenforschung (Herfried Münkler), den Konfliktlinien im christlich-jüdischen Austausch (Christoph Münz) oder der Haltung der ev. Kirche zum Zweiten Weltkrieg in Berührung gekommen ist, erhält einen einführenden und fundierten Überblick.

Mit starker Orientierung an Johann Baptist Metz und Arthur Allen Cohen gelangt Christoph Münz zu der emphatischen Forderung, daß man jenseits der Mode ..., Gemeinsamkeiten von Juden und Christen zu betonen“, als eine der zentralen Lehren des Holocaust den Mut aufbringt und alle Konsequenzen zu tragen bereit ist, zunächst einmal die Differenz und Eigenständigkeit beider Traditionen wahrzunehmen (41). Ein solches Differenzierungsvermögen wird womöglich bereits dadurch blockiert, daß eine weniger befangene Generation nach 1989 ohnehin eine neue vergangenheitspolitische Begründung der Demokratie in Deutschland (210) praktiziert. Im Gegensatz zu den begütigenden und aus christlicher Perspektive versöhnen wollenden Beiträgen der meisten (mindestens 50jährigen) Autoren ist es gerade die Polemik der deutschen Jüdin Esther Dischereit, die wissen will, warum Martin Walsers Geschichte eigentlich steinalt ist (242), und so nochmals die Grundlagen des west- und ostdeutschen Verdrängungskonsenses enthüllt. Ich steh da als Jude nur dumm in der Landschaft herum und habe zu verantworten, daß wer verantwortungslos wurde. Nein, das will ich natürlich ganz und gar nicht, daß wer seine Kinder verliert oder seine Frau oder die Frau ihren Mann weswegen? (245). Gerade diese aggressiv-polemische Seite des christlich-jüdischen Gesprächs aber geht in der Fülle des Gutgemeinten und allzu Bekannten unter.

Am ehesten noch zeugen die literarischen Texte von Hilde Domin, Tuvia Rübner und Penny Yassour von der weiterhin existierenden Wut und Enttäuschung der Nach-Schoa-Generation. Doch gewinnen die Äußerungen von Opfer- wie Täterkindern kein eigenes Profil, wenn etwa die persönliche(n) Erinnerungen eines Benjamin Maoz (296 ff.) nicht mit den didaktischen Konzepten der Gruppe Konfrontationen (285-295) verbunden werden. Darüber hinaus beklagt Silke Wenk in einem bereits 1997 an anderer Stelle publizierten Aufsatz symptomatische Fehlleistungen des Berliner Denkmalprojekts für die ermordeten Juden (310-317). So bildet der Band ein weiteres Dokument (west)deutscher Betroffenheitsrhetorik. Der angestrebte Versuch einer Öffnung kann allenfalls für diejenigen produktive Energien entfalten, die sich bisher überhaupt noch nicht mit den Verwerfungen im ,deutsch-jüdischen Gespräch beschäftigt haben. Für alle anderen ist in der Tat vieles schon längst gesagt (14).

(Andreas Disselnkötter im Freiburger Rundbrief)
Mehr Infos
Fragt uns, wir sind die letzten! Können Jüngere mit heute alten ZeitzeugInnen des Nationalsozialismus in einen Dialog gelangen? Wie war es bei dir, bei Euch? Wie ist es für mich, für uns? Was folgt?

In Erinnern und Erben in Deutschland geht es um die Opfer und Überlebenden, die MitläuferInnen, ZuschauerInnen und TäterInnen und um die nachfolgenden Generationen. Das Buch sammelt Erinnerungen, Gedenken, Nach-Fühlen und Sichtbarmachen aus der Ersten Generation. Zum anderen zeigt es neue persönliche, kulturelle und wissenschaftliche Möglichkeiten des Erbens in der und aus der Zweiten, Dritten und Vierten Generation. Die Fokussierung auf Opfer und Täter sowie ihre jeweiligen Nachkommen unterstreicht zum einen die Tatsache der gespaltenen Erinnerung. Opfer und Täter können niemals die gleiche Erinnerung haben. Zum anderen verdeutlicht sie den Wandel des kollektiven Gedächtnisses innerhalb einer Gesellschaft, bedingt unter anderem durch den Generationenwechsel: Das kollektive Gedächtnis ist somit nur im Plural zu verstehen. Jede Generation, und darin wiederum jede Gruppe, verfügt über ihre eigene Erinnerung, ihr eigenes Erbe.
Inhalt
Gefährlicher Löffel

Hilde Domin



Der Welt ein Gedächtnis geben

Christoph Münz



Belastende Erbschaft. Ästhetisierung von Gewalt in der deutschen Literatur

Jürgen Gidion



Der 'Kriegseinsatz' der deutschen Geisteswissenschaften im Zweiten Weltkrieg (1940-1945)

Frank-Rutger Hausmann



'Großdeutschland ruft zum Dienst!' Die evangelische Kirche und der 2. Weltkrieg

Martin Hein



Dawidy. Für Siglinde

Hans Keilson



Aber ich hatte 'es' doch gewusst!

Erna-Gisela Kölbel



Ich die Alte - Ich die Junge. Konfrontation mit meinen Tagebüchern 1933-1945

Lore Walb



Erfahrungen beim Lesen von Lore Walbs Buch

Hartmut Radebold



Wenn die Abwehrschranken fallen. Erinnerung, Demenz und Nazizeit im Pflegeheim

Jan Wojnar



Words

Ursula Duba



Zur Problematik von Erinnern und Erben

Aleida Assmann



Von den Überlebenden zu den Enkeln. Ein Gespräch mit Dan Bar-On

Aleida Assmann



Deutschland, mein Vater und die zweite Generation. Eine Stimme aus England

Evelyn Friedlander



Die Erinnerung der Generationen

Heinz Bude



Buchenwald: Tatort - Gedenkstätte - Museum. Gedächtnisarbeit für die Zukunft

Volkhard Knigge



Jetzt, wo ich soviel darüber weiß, habe ich gar keine Idee mehr für ein Denkmal

Horst Hoheisel



Wie ich hinsehe. Warum Martin Walsers Geschichte eigentlich steinalt ist

Esther Dischereit



Dort, sagte ich

Tuvia Rübner



Siegfried - Hermann - Barbarossa. Deutsche Mythen - ein fragwürdiges Erbe

Herfried Münkler:



Erziehung nach Auschwitz

Helmut Schreier



Konfrontationen. Pädagogische Annäherungen an Geschichte und Wirkung des Holocaust

Jacqueline Giere, Gottfried Kößler, Petra Mumme



Der Wandel der israelischen Gesellschaft im Umgang mit der Shoah 1948-1998. Persönliche Erinnerungen und einige darauf folgende Assoziationen

Benyamin Maoz



Identifikationen mit den Opfern und Sakralisierung des Mordes: Symptomatische Fehlleistungen des Berliner Denkmalsprojekts für die ermordeten Juden

Silke Wenk



x mal documenta X: Über Penny Yassours 'Involuntary Memory'

Heiner Georgsdorf



Mental Maps - Involuntary Memory. Kassel, documenta X . Untersuchungszeitraum: 1920-2000

Penny Yassour
Vorwort
Ist nicht schon längst alles gesagt?

Warum wir dieses Buch herausgeben





Bei einer Reflexion über den Umgang mit Geschichte, der eigenen und der kollektiven, deuten die Verbformen Erinnern und Erben das nicht Abgeschlossene an, den Prozess, der einen undefinierbaren Ort konturiert. Es sind zwei Leitbegriffe, die auf den ersten Blick konträr erscheinen. Der erste scheint ein gewollter Akt, den Individuen oder eine Gesellschaft vollziehen, während der zweite eher passiv konnotiert ist: Es wird etwas weitergegeben ohne unser Zutun. Was beide Begriffe verbindet, ist ihr Bezug zur Vergangenheit.

Nun wissen wir aber aus den Debatten der letzten 10 Jahre, dass beide Begriffe nicht so unschuldig sind. Wir wissen, dass Erinnerung, persönliche wie kollektive, ihr Gegenteil, das Vergessen, enthält und unabhängig von unserem Willen geschieht; wir wissen ebenso, dass Erinnerung nicht nur etwas mit Vergangenheit zu tun hat, sondern sehr wohl im Dienste der Gegenwart und ihrer Interessen und Bedürfnisse stehen kann, so dass wir es wohl immer mit Erinnerungssplittern zu tun haben.



Ähnlich verhält es sich mit dem Begriff Erben. Man kann ein unliebsames Erbe auch ausschlagen, darauf weist die "Stunde Null"-Rhetorik hin, die am Anfang der Bonner Republik stand und die Möglichkeit eines totalen Neubeginns suggerierte. Das Grauen der eigenen Geschichte im Rücken, richtete sich der Blick in die Zukunft, ganz so, als ob man ein Erbe ignorieren und so tun könnte, als ob man es nie erhalten habe. Die Kontinuität, auf die das Erbe hinweist, scheint in einem Abgrund zu münden. Aber auch hier wissen wir, dass ein nicht angenommenes Erbe nicht einfach verschwindet, sondern als Erblast wiederkehrt.

In diesem Sinne bezeichnen die beiden Leitbegriffe die Vielfalt der gegenwärtigen Diskurse um eine verantwortungsvolle Gedächtniskultur.

Der vorliegende Band entstand aus einer Kasseler Veranstaltungsreihe "Erinnern und Erben in Deutschland". Die Diskussion wurde erweitert durch Beiträge, die eine ergänzende Sicht auf den Themenkomplex werfen. So begegnen sich hier verschiedene Formen und Ansätze der persönlichen, künstlerischen und wissenschaftlichen Reflexion. Sie deuten die breite Reichweite des Themas durch einen bewussten Verzicht auf eine spezifische Methode an und öffnen einen Horizont, der die üblichen Trennungen zwischen den verschiedenen Disziplinen und Zugängen aufhebt.

"Erinnern und Erben in Deutschland" berücksichtigt die Perspektiven der Opfer und Überlebenden, der Mitläufer, Zuschauer und Täter und ist erweitert um die der nachfolgenden Generationen. Die Erinnerungslinien der zweiten und dritten Generation, der Nachkommen von Opfern und Tätern, reichen zurück in eine nicht-erlebte Zeit. Dieses Erbe erweist sich als konstitutiv für die biografische Verortung in der eigenen Kultur und deren politischen Handlungsmustern. Gerade die jüngste Debatte über die Beteiligung deutscher Truppen innerhalb eines NATO-Einsatzes bezeugte, wie weit solche Linien gegenwärtiges politisches Handeln mitbestimmen.

Die Fokussierung auf Opfer und Täter sowie ihre jeweiligen Nachkommen unterstreicht zum einen die Tatsache der gespaltenen Erinnerung Opfer und Täter können niemals die gleiche Erinnerung haben. Zum anderen verdeutlicht sie den Wandel des kollektiven Gedächtnisses innerhalb einer Gesellschaft, bedingt unter anderem durch den Generationenwechsel: Das kollektive Gedächtnis ist somit nur im Plural zu verstehen. Jede Generation, und darin wiederum jede Gruppe, verfügt über ihre eigene Erinnerung, ihr eigenes Erbe.



Eingeteilt ist das Buch in vier Abschnitte, von denen jeder mit einem lyrischen Text eröffnet wird als Verdichtung oder Vertonung der nachfolgenden Beiträge.



Der erste Teil "Kollektive Gedächtnisse Archive" oszilliert auf der Schnittstelle zwischen Erinnern und Vergessen. Wenn das Archiv "das materielle Gedächtnis einer Gesellschaft ist" (Aleida Assmann), dann erwecken die hier enthaltenen Beiträge das zurückgedrängte, fast dem Vergessen preisgegebene Erbe, das in den Archiven der Kirchen und Städte, der Universitäten oder des Staates in seinem "Dornröschenschlaf" (Assmann) verharrt, bis es daraus befreit wird. Die Beiträge des ersten Teils sind also ein Plädoyer für eine Gedächtnis- und gegen eine Archivkultur.



Teil II "Erinnern" artikuliert das Spannungsverhältnis zwischen privaten Erfahrungen/Erinnerungen und öffentlichen Debatten. Individuelle Erfahrungen stehen hier gleichberechtigt neben den wissenschaftlichen Erkenntnissen des nachfolgenden Teils und unterstreichen Andrei Markovits' These, dass "das kollektive Gedächtnis um Erfahrung und Gefühl kreist".



Teil III "Am Scheitel von Erinnerung und Geschichte" bezeichnet den graduellen Übergang vom individuellen zum kulturellen Gedächtnis. Der Blickwinkel dieses Teils richtet sich auf den gegenwärtigen Umgang der Gesellschaft mit Erinnerungen und spiegelt gleichsam die Wende vom persönlichen "Denken-an" zum öffentlichen "Gedenken". Dieser Prozess ist schmerzhaft und von langer Dauer. Es ist der des langsamen Erwachsenwerdens Deutschlands nach der von diesem Land ausgegangenen Menschheitskatastrophe.



Teil IV: "Erben". Hier liegt der Schwerpunkt auf dem pädagogischen Auftrag, der uns aus diesem Erbe entstanden ist. Wie kann Erinnerung für die nachkommenden Generationen bewahrt werden, wenn die letzten Zeugen verstummt sind? Welche Konsequenzen birgt diese Frage in sich für eine Erziehung nach Auschwitz? Eine Frage, die sich nicht nur in der deutschen, sondern auch in der israelischen Gesellschaft stellt, angesichts des Wandels in beiden Ländern im Umgang mit der eigenen Geschichte. Ein Wandel, der durch politische und gesellschaftliche Ereignisse und Mythen, sowie die immer größer werdende zeitliche Distanz zum Nationalsozialismus und seiner Vernichtungspolitik bedingt ist.

Das Buch ist ummantelt von den zwei "Greifvögeln" auf dem Schutzumschlag. Mit dieser verfremdeten Landkarte Deutschlands hat es eine Gestalt erhalten. Als wir diese Arbeit einer israelischen Künstlerin der zweiten Generation auf der documenta X in Kassel sahen, traf es uns wie ein Schlag. Eingeritzt und unauslöschlich sind die Erinnerungsspuren im kollektiven Gedächtnis Deutschlands und Israels. Plötzlich und überraschend tauchen sie aus den Tiefen des Gedächtnisses wieder auf – das Erbe zieht uns in seinen Schatten.



Für die Herausgeber/innen:

Eva Schulz-Jander

Leseproben
Wie ich hinsehe

Warum Martin Walsers Geschichte eigentlich steinalt ist

Esther Dischereit



Ich will ihnen in die Ohren schreien, denn ich schreie schon lange kennen sie Edward Munch? Es interessiert mich eigentlich nicht, ob Martin Walser bei Judenmord Ohrenschmerzen bekommt oder Monika Maron zittert. Manche DDR-Bürger meinen ja, sie hätten das Thema schon gehabt. Andererseits bin ich beleidigt worden, ich und viele andere. Ich, Jüdin, eben. Wegen der Respektlosigkeit, mit der einem öffentlich mitgeteilt wird, man soll einer Mehrheit mit seiner Geschichte nicht auf den Wecker gehen, so wie man einer trauernden Frau sagt, du hattest ein Jahr, nun ist es gut. Kehre zurück in die Normalität, was immer das sei und wer immer darin herumstehe, und ist es ausgerechnet der Mörder. Wegsehen kann sowieso jeder, aber dazu aufrufen ist doch herzlos, nicht wahr? So geht einem der Trauernde auf die Nerven mit der nicht enden wollenden Klage, und das Täterkind reklamiert noch, daß es sich auch längst von den Toten von welchen Toten wohl? verabschiedet habe.

Vor allem ist es blöd, daß ich mich jetzt dringend an der Seite von Ignatz Bubis befinde. Natürlich. Warum? Weil ich Herzkalte nicht leiden kann. In Wirklichkeit möchten die Sprecher doch sagen, daß sie den 9. November, jedenfalls in bezug auf die Reichskristallnacht, den Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus ich hab im Kalender nachgesehen und kann jetzt mühelos wiedergeben und den 8. Mai und Kapitulation und das Ende des 1. Weltkriegs und das und das ... ach ja, noch 20 Juli satt haben und keine Lust, an solchen Tagen reden oder zuhören zu müssen. Soweit ich weiß, sind die Geschäfte offen. Man kann dann einkaufen gehen. Aber sie wagen es nicht zu sagen, daß sie auf diese Tage verzichten möchten gewissermaßen wegen eines Überangebotes an Aufgeklärtheit, das sie nicht nötig haben.

Dresden ist auch noch dazugekommen. Wegen der Bombenangriffe und da und da. Aber das gehört vielleicht zu einem anderen Thema. Es fehlen gewissermaßen die positiven Feiertage Tag der Gründung der BRD oder des Nationalstaats oder der Tag, an dem Alwin Schockemöhle das Springreiter-Tunier gewann oder Neckermann die Dressur, der auch berühmt wurde, weil er den arisierten Nachkriegskonsum prägte selbst für ärmere Schichten. Mir tut das leid, bestimmt. D-Day kommt ja auch nicht in Frage, der Tag, an dem die Amerikaner trotzdem in der Normandie landeten. Vielleicht können wir wieder Muttertag zum Nationalfeiertag erheben, das wäre wahrscheinlich immerhin natürlich.

Walsers Rede ist eigentlich steinalt, von damals nämlich, als ein Bürgermeister sagte, die Schonzeit für Juden sei vorbei. Und weil er eine doch sehr private Geschichte öffentlich bekanntgab, nämlich die, wenn er wegsieht, erzähl ich ihm eine andere Geschichte, nämlich darüber, wie ich hinsehe, sogar dann, wenn meine Schwester im Badezimmer ist, was mich ja eigentlich nichts angeht, - und so oder wenn ich bei Bekannten zu Besuch bin, was jetzt Walser nichts angeht und so oder die Geschichte über die Tochter, die ist auch interessant.

Erst die bei Bekannten:

So die Schwester hat auch überlebt?

Naja, die kann sich sicher nicht mehr erinnern.

Wie kommst du darauf, daß sich niemand mehr erinnern kann?

Du hast da doch sicher auch nicht mitbekommen.

Wie kommst du darauf, daß ich nichts mitbekommen habe? Hast du auch nichts mitbekommen in deinem Haus? Erinnerst du dich an die Geburtstagsfeier mit deinem Freund, der alte Mann, der erzählte, daß er Gutachter war. Sagte, ich arbeitete als Gutachter als Arzt. Ich sage, ja wo arbeiteten Sie denn als Gutachter und Arzt. Ja, vor Gericht, sagt er, vor Gericht, natürlich. Ich rücke von ihm ab. Es handelte sich um Nazi-Deutschland. Was gutachtet einer in Nazi-Deutschland? Oder die Geschichte von dem, der ein Verleger ist und mit mir nie ein Buch gemacht hat es kam irgendwas dazwischen. Und doch ist er immer in Verbindung geblieben, und wie er mein Warschau-Buch sah, erzählt er, daß sein Vater Arzt gewesen war bei der Truppe und daß er einer der ersten war, damals in Polen. Und ich ich weiß, daß sie als erstes in Polen eine komplette Besetzung eines Krankenhauses umgebracht haben: Die Patienten, die Ärzte, den Pförtner und die Krankenschwestern. Da war die Angelegenheit im Reich noch geheim. Ach, und diese Lehrerin, die mir erzählt hat, wie sie eine jüdische Schülerin heulend in ihrer Klasse antrifft, die hatte einen Kummer, weil ein Mitschüler zu ihr sagte, ach! Juden wollen immer was Besonderes sein. Da macht sie eine Unterrichtseinheit darüber, woher das Besondere im Judentum und das Auserwählt sein eben kommt.

Ich bin gerne auserwählt, sage ich zu meiner Schwester. Sagt sie, meine Tochter geht in die katholische Religion. Ich sage, ist gut.

Das waren die Bekannten, jetzt die Tochter:

Meine Tochter tritt aus dem Judentum aus. Dabei hat sie es eilig. Erstens wird sie gleich fünfzehn. Und das muß noch vor ihrem Geburtstag geschehen. Dann ist sie zu ihrem Geburtstag keine Jüdin mehr. Und zweitens kann man nie wissen, wann sie in der Schule mit dem NS anfangen. Wenn sie rechtzeitig austritt, trifft das nicht zu auf sie jedenfalls, meint sie.

Jetzt die Schwester:

Und zu einem dieser langweilenden Vergangenheitsprojekte wie dem von Spielberg oder der Yale University, das hier zwei junge Frauen angezettelt haben, die keinen Doktor hatten.

Warum sagt deine Schwester nicht aus? Warum? Sie ist doch eine Zeugin, eine wichtige Zeitzeugin? Meine Schwester sagt, sie muß erst schön werden und sich richtig anziehen dafür. Und wissen Sie, wie lange sich meine Schwester anzieht? Das kann ich gar nicht beschreiben. Meine Schwester zieht sich stundenlang an. Ich übertreibe nicht. Wirklich viele, viele Stunden. Das war schon früher so. Ich weiß nicht, was sie dann macht. Sie nimmt ihre Kleider in die Hand und schließt sich für zwei bis drei Stunden im Badezimmer ein. Seit Jahren. Da kann man davorstehen und dringend pinkeln müssen, das hat sie nie gerührt. Manchmal hatte ich Angst, weil man nichts hörte. Sie kommt dann irgendwann heraus und ist nicht geschminkt. Meine Schwester schminkt sich nicht. Heute glaube ich, sie zieht sich so lange an, damit sie sich einschließen kann. Wenn sie eingeschlossen ist, ist es wie damals, als sie sie einschlossen. Kleine Kinder haben Angst, wenn sie lange allein sind und eingeschlossen, ich weiß. Vielleicht geht sie da hinein in das Badezimmer für diese langen Stunden, damit sie weiß, daß sie jetzt aufschließen darf. Nie habe ich meine Schwester darüber reden hören. Vor allem wird ihre Aussage benötigt, weil sich die Wissenschaft jetzt mit den Rettern beschäftigt. Oft habe ich mit ihr darüber geredet, daß sie was sagen soll. Und bin auch auf Kongresse gegangen.

Sagt einer, wie kamen die denn dazu, ihre eigenen Kinder und Frauen wiederum zu gefährden, wo denn das Großartige an der Hilfe sei?! Sag ich: Da haben Sie recht. Es war eigentlich unverantwortlich zu helfen. Das Stimmt schon. Frag ich ihn, wo er denn arbeitet, sagt er, er ist Mitarbeiter in Antisemitismus-Fragen. Ich steh da als Jude nur dumm in der Landschaft herum und habe zu verantworten, daß wer verantwortungslos wurde. Nein, das will ich natürlich ganz und gar nicht, daß wer seine Kinder verliert oder seine Frau oder die Frau ihren Mann weswegen? Wegen mir? Das kann ich nicht wollen, nicht wahr. Ich müßte mich sonst ewig schuldig bekennen, dafür, daß Retter starben und dafür, daß sich welche jetzt andauernd unwohl fühlen und sich als angenehme Menschen und Deutsche behandelt wissen möchten. Ich will ihnen nicht im Wege stehen und wünsche ihnen Erfolg wie Schröder beim Goldenen Lenkrad, da war es sicher netter als bei den Gedenkreden. Und vielleicht könnte ich auch der New York Times einmal sagen, daß sie da drüben ein bißchen freundlicher berichten.





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